Mit qalb kommt das Wort „Herz“ im Koran an über 130 Stellen vor. Zählt man fu°âd bzw. seinen Plural hinzu, vergrößert sich diese Zahl noch einmal beträchtlich. Ausgerechnet um diese zentrale Begrifflichkeit herrscht einige Verwirrung, und mancher ist sich gar nicht bewusst, wie entfernt er vom koranischen Konzept des Herzens ist, wenn er von ihm spricht.
Das Primat des Herzens wird aus zahlreichen Versen und Prophetenaussagen unmissverständlich deutlich; sie lehren, dass die Verschmutzung und Erkrankung des Herzens die größte spirituelle Katastrophe sind, und dass man erst mit einem „unversehrten“ Herzen im Jenseits errettet wird.1 Nicht nur das ist Grund genug für eine nähere Kontemplation dieses besonderen terminus coranicus. Je nach begrifflicher Auffassung kann eine solche weitreichende - mitunter sogar lebensgefährliche - Implikationen nach sich ziehen. So meinen manche Polemiker, den göttlichen Ursprung des Koran widerlegen zu können, weil dieser einem bloßen Pumporgan die Rolle zukommen lasse, welche nach dem heutigen wissenschaftlichen Stand eigentlich das Gehirn besitze. Auf der anderen Seite gibt es Gutachten mancher islamischer Rechtsauskunftgeber, welche lebensnotwendige Herztransplantationen für verboten erklären, u. a. weil sie der Meinung sind, eben jenes muskuläre Pumporgan sei der Sitz des Geistes bzw. des Verstandes.
Sodann meinen manche muslimische Strömungen, von einer Dichotomie von Herz und Verstand ausgehend, aufgrund der koranischen Betonung des Herzens die Ratio des Menschen auf die Hinterbank verweisen zu können, zumal das Herz als die für Liebe und Emotionen zuständige Komponente dem Gehirn oder dem kühlen Verstand diametral gegenübergestellt sein müsse. So pflegen einige unter Rückgriff auf diese Annahme eine Reihe teils obskurer und abwegiger Lehren und Praktiken zu begünstigen oder zu rechtfertigen. Vereinfacht wiedergegeben heißt ihr Motto in etwa: „Benutze dein Herz und nicht so viel deinen Verstand.“ Derweil bezieht sich der Koran an sehr vielen Stellen auf den Verstand, betont die Wichtigkeit des rationalen Begreifens (عقل und فقه) und Urteilens und verdammt seine Vernachlässigung, doch nirgends stellt er den Verstand dem Herzen gegenüber, bzw. stellt er nirgends eine Gegensätzlichkeit zwischen den beiden her, dies nicht einmal anspielungsweise. Mehr noch, denn das rationale Begreifen (عقل und فقه) wird als genauso zum Herzen gehörend angeführt wie das Hören zum Ohr und das Sehen zum Auge (7:179, 22:45). Diese Tatsache wird allenfalls dadurch relativiert, dass im Ehrwürdigen Koran das rationale Begreifen in der Tat nicht die einzige Aufgabe des Herzens ist. Den ersten Generationen der Muslime war jedenfalls eine solche Dichotomie praktisch fremd, und in ihrer Sprache war der Verstand stets eine Sache des Herzens.
Es ist nicht unmöglich, dass spätere Muslime bei diesem Missverständnis unbewusst von der abendländisch-christlichen2 Konzeption eines Herzensbegriffs und dem romantisch-westlichen Herz-Verstand-Dualismus beeinflusst sind, wobei in der sogenannten abendländischen Kultur das Herz als Symbol mittlerweile weitgehend auf irrationale Liebe reduziert worden ist und es in dieser Symbolik häufig nicht einmal mehr für „Intuition“ und „Bauchgefühl“ (der Name bestätigt die Verlagerung) zuständig ist.
Ist mit dem Herzen im Koran wirklich das kardiale Organ, also das fleischliche Herz, gemeint? Wie kann das sein, wenn doch der heutige Stand der Neurologie und Kardiologie keinen Zweifel daran lassen, dass es das Gehirn ist, welches Ratio und Gedächtnis beherbergt, während das Herz nach der etablierten Humanbiologie im Wesentlichen keine andere Aufgabe hat, als Blut durch den Körper zu pumpen? Haben die etablierten Wissenschaften hier etwas übersehen? Oder steckt hinter dem „Herz“ im Koran gar das Gehirn? Oder bezeichnet sein Name im Koran eine gänzlich immaterielle Komponente des Menschen? Ist es vielleicht mit der Seele (nafs) zu identifizieren? Oder ist es vielmehr der reine Verstand, wie einige Exegeten nahelegen? Oder haben wir es bei der koranischen Rede vom Herzen mit einem rhetorischen Subjektivismus im Sinne einer Ibn-Masud-Uneigentlichkeit3 zu tun? Und ist qalb dasselbe wie fu°âd, das ja auch mit „Herz“ übersetzt wird?
Um der Beantwortung dieser Fragen näher zu kommen und auf die Suche nach dem Herzen gehen zu können, sollten wir zunächst einen „Steckbrief“ des koranischen Herzens erstellen, in welchem die koranischen Angaben des Ehrwürdigen Koran zu der Rolle, den Aufgaben und den Eigenschaften des Herzens zusammengetragen werden. Dabei sollten wir im Hinterkopf behalten, dass für einen koranisch reservierten Terminus auch mehr als nur eine einzige Bedeutung vom Koran festgelegt sein kann,4 nicht unbedingt an allen Stellen durchgehend mit derselben Bedeutung benutzt wird und dies im Falle des Herzens ebenfalls nicht ausgeschlossen ist.
Zu den wichtigsten Feststellungen bezüglich der Funktion des koranischen Herzens gehört, dass es offenbar ein inneres Erkenntnisinstrument ist, eine Art inneres Auge zur Unterscheidung von (zumindest spiritueller oder ethischer) Wahrheit und Unwahrheit, bzw. von Gut und Böse: Denn nicht die Augen5 werden blind, sondern die Herzen, die in den Brustkörben sind, werden blind
(22:46) Die Herzen derjenigen nun, die nicht an das Jenseits glauben, sind unerkennend (munkirah)
(16:22)
Auch in authentisch überlieferten Aussprüchen des Propheten findet sich eine Bestätigung dieser Feststellung: Wenn der Knecht (d.h. der Mensch) eine Verfehlung begeht, entsteht an seinem Herzen ein schwarzer Punkt. Hört er nun auf, bittet um Verzeihung und bekehrt sich, wird sein Herz wieder klar. Macht er jedoch weiter, wird ihm (d.h. dem Punkt) noch mehr hinzugefügt, bis es (d.h. das Herz) völlig überdeckt ist.
6 Was dies zur Folge hat, macht ein ergänzender Ausspruch klar: Die Versuchungen werden dem Herzen wie eine Matte, Halm um Halm, vorgeführt. Welches Herz auch immer sie aufnimmt, wird von einem schwarzen Punkt befleckt, und welches Herz auch immer sie verwirft, wird mit einem weißen Punkt versehen, so dass zwei (Arten von) Herzen entstehen, ein weißes wie Safa-Gestein, dem keine Versuchung schaden kann, so lange die Himmel und die Erde bestehen, und ein anderes, schwarzes, dunkel und wie ein Krug auf den Kopf gestellt, nichts Erkennungswürdiges erkennend7, und nichts Verwerfungswürdiges verwerfend.
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Damit in engem Zusammenhang steht, dass das Herz allgemein das Instrument ist, in welchem subjektive Bewertungen entstehen: Gott machte euch die Gläubigkeit lieb und zierte (zayyana) sie in euren Herzen
(49:7). Das Verb zayyana wird im Koran mehrfach benutzt, um subjektive (auch falsche) Bewertungen auszudrücken. 9
Es ist für die Funktion der Verstandestätigkeit bestimmt (7:179, 22:46), und es ist dasjenige im Menschen, was den Koran tief versteht (فقه), solange es daran nicht gehindert wird (6:25, 47:24).
Das Herz ist außerdem - abseits bloßer Launen oder flüchtiger Gelüste - die Quelle der eigentlichen Intentionen und der dezidierten Entschließungen des Menschen (2:225, 33:5), ein innerlich handelndes Organ (23:63), besonders indem es einen Glauben annimmt oder ablehnt, aber auch, indem es sündigt (2:283), die Herberge der tiefsten Überzeugungen eines Menschen, sowie seiner Gläubigkeit (2:6-7, 48:11, 49:14, 58:22), dasjenige, was tiefen Zweifel hegt10 (9:45), kann aufmerksam und unaufmerksam werden (21:2-3, 18:28), und es ist der Sitz oder Träger des spirituellen Pflichtbewusstseins (arab. taqwâ; 22:32, 49:3). In ihm wurzeln wahre Freundschaft und Brüderlichkeit bzw. Feindschaft (3:103, 8:63, 59:14, 9:60), sowie emotionale Intelligenz und Empathie (3:159).
Besonders wichtig ist, dass das koranische Herz zudem etwas Inneres ist, dessen Zustand sich auf den äußeren Zustand sowie die äußere Haltung auswirkt, so dass das äußere Verhalten (solange keine anderen Faktoren interferieren) im Herzen wurzelt (3:159, 6:43). Die Wichtigkeit dieses Sachverhalts wird auch von einer Prophetenaussage unterstrichen, worauf wir an späterer Stelle noch eingehen wollen (Fleischklumpen-Hadith).
In den bisherigen Funktionen und Eigenschaften des Herzens scheint dieses sich von dem zu unterscheiden, was im Koran „Brust“ genannt wird. Letzteres wird vorwiegend im Zusammenhang mit Empfindungen, Emotionen und gefühlsmäßiger Psyche genannt. Nichtsdestotrotz kann im Koran auch das Herz der Sitz von Gefühlen sein wie Ruhe und Unruhe, Furcht oder Wut sein, wenn auch die Frage sich hier stellt, ob dies nicht schon ein „anderes“ Herz als das bisherige ist, und was sich daran ablesen lässt, wenn der Koran diese Dinge in der Brust statt im Herzen oder umgekehrt ansiedelt.
Ist fu°âd aber dasselbe wie qalb? Immerhin herrschen zwischen den beiden auffällige Parallelen.11 Der Grund für diese Parallelen erweist sich nach einer eingehenden Analyse als einleuchtend: Offenbar ist fu°âd die Gesamtheit der Funktionen des qalb, insbesondere das innere Erkennen und Fühlen, bzw. die Fähigkeit hierzu. Denn immer wieder kommt im Koran das Triplett Gehör-Sehsinn-fu°âd vor,12 und demgegenüber zwei Mal das Triplett Ohren-Augen-qalb13, sowie häufig das Dublett Ohren-qalb,14 nie aber ein Triplett Ohren-Augen-fu°âd oder ein relevantes Dublett Gehör-qalb15 und eigentlich nicht einmal ein Triplett Gehör-Sehsinn-qalb.16 Offensichtlich verhält sich fu°âd zum qalb wie das Gehör zum Ohr und der Sehsinn zum Auge.
Was also dem fu°âd zugeordnet wird, wird somit indirekt zugleich dem Herzen zugeordnet, auch wenn die Begriffe auf der Inhaltsebene nicht miteinander identisch sind, wie auch die Verwendungsweise beider Termini in Sure 28:10 ahnen lässt. So können Verse, in denen das fu°âd thematisiert wird, auch bei der Identifikation des Herzens behilflich sein.
Neben dem identischen Namen qalb sprechen noch andere Dinge dafür, dass der Koran sich beim oben beschriebenen Herz durchweg auf das kardiale Organ statt auf das Gehirn oder etwas anderes bezieht - zumindest werden diese Dinge teilweise von Befürwortern dieser These angeführt:
1.) Der Vers Denn nicht die Augen werden blind, sondern die Herzen, die in den Brustkörben sind, werden blind
(22:46). Er mache deutlich, dass es sich bei dem Erkenntnisinstrument um das bekannte Herz am bekannten Ort handele. Der bestimmte Relativsatz scheint auszuschließen, dass es sich um ein anderes Herz handelt. 2.) Die Existenz eines anderen als des kardialen Herzens im Menschen schiene dem Koranvers zu widersprechen, welcher besagt: Keinem Mann hat Gott zwei Herzen in sein Inneres (jawf) gesetzt
. 3.) Eine als authentisch eingestufte Überlieferung im Şaħîħ-Werk Muslims, der zufolge Anas b. Malik berichtete, Mohammed sei als Kind vor den Augen anderer Kinder von Gabriel die Brust aufgeschnitten und sein Herz entnommen worden, dem Gabriel wiederum ein Blutklümpchen entnommen und gesagt habe: „Dies ist der Anteil des Satans an dir.“ Daraufhin habe er das Herz in einer goldenen Schüssel mit Zamzam-Wasser gewaschen, um es an seine Stelle im Körper des Kindes zurückzulegen und die Öffnung in der Brust zu verschließen. Man sei, nachdem andere Kinder Alarm geschlagen hätten, zu ihm hingekommen und habe ihn mit verfärbtem Gesicht vorgefunden. Der Bericht zitiert zum Ende hin Anas b. Malik mit den Worten: „Ich pflegte tatsächlich die Spuren der Naht in seiner Brust zu sehen.“17 4.) Bei manchen Herztransplantationspatienten seien nach der Operation Veränderungen in manchen Aspekten ihrer Persönlichkeit oder in ihren persönlichen Präferenzen feststellbar, und zwar auch derart, dass sie diese von den verstorbenen Spendern nun übernommen hätten. 5.) Es ist wissenschaftlich festgestellt worden, dass sich der Herzschlag von Ehe- und Liebespaaren, die einander anblicken, zu einem synchronen Takt angleichen.18 So wie die beiden Herzen scheinbar unabhängig von Nervenbahnen oder einem sonstigen Medium miteinander kommunizieren, könnte das kardiale Herz ja mit dem Hirn kommunizieren. 6.) Das Herz verfügt über ein recht komplexes Nervensystem mit 40.000 Neuronen, das weitgehend unabhängig vom Gehirn funktioniert und sendet ein um tausende Male stärkeres elektromagnetisches Feld als das Gehirn aus.
Dies sind durchaus überwiegend respektable Argumente. Sie sprechen jedoch nicht zwingend dafür, dass das koranische mit dem kardialen Herz gleichgesetzt werden muss.
Was nämlich den ersten Punkt angeht, mit dem Vers Denn nicht die Augen werden blind, sondern die Herzen, die in den Brustkörben sind, werden blind
so muss der Relativsatz darin nicht unbedingt den Zweck der Unterscheidung oder des Ausschließens haben, sondern kann auch der bloßen Erinnerung oder der zusätzlichen Information dienen, wie z.B. in dem koranischen Satz: Und fürchtet Gott (allâh), zu Dem hin ihr versammelt werdet
(5:96, 58:9). In diesem Satz kann der Zweck des Relativsatzes nicht die Unterscheidung oder das Ausschließen sein, da dieser Zweck schon durch den eindeutigen Namen allâh erfüllt ist. Höchstens, dass das zu Suchende sich im Brustkorb befindet, lässt sich also mit dem Satz ableiten (und selbst das lässt sich bis zu einem gewissen Grad befragen). Nicht aber lässt sich mit dem Vers ausschließen, dass es sich um ein anderes als das fleischliche, kardiale Herz handelt, z.B. um ein immaterielles, wie Ghazali schon im 11. Jahrhundert n. Chr. in seinem Buch „Die Wiederbelebung der Religionswissenschaften“ überzeugt war.
Die hauptsächliche Intention des Relativsatzes ist ohnehin zweifellos nicht die Verortung des Herzens oder vorzubeugen, dass der Leser den „Herz“ unwörtlich versteht, denn für eine solche Intention wäre zu erwarten, dass derartige Fragen zur Offenbarungszeit zur Debatte gestanden hätten (was nicht der Fall ist). Die korrekte Auffassung ist, dass es dem Relativsatz um die Betonung der Unsichtbarkeit und Innerlichkeit des unterschätzten Erkenntnisinstrumentes geht - etwa: „Nicht die äußeren Augen sind die wichtigsten, sondern das innere Auge.“ Immerhin steht gerade am „Brustkorb“ (Şadr) im Koran häufig die Eigenschaft des Verbergens im Zentrum (3:29, 3:118, 40:19 u.a.). So ahnt der feinsinnige Leser, dass, um gewisse, den äußeren Wahrnehmungsorganen von Natur aus verborgene Dinge zu erkennen, ein Organ benutzt werden muss, dass wie jene Dinge ebenfalls von Natur aus verborgen ist.
Außerdem müsste für das literale Verständnis des „Herz“-Substantivs in dem Vers nachgewiesen werden, dass auch der „Brustkorb“ (Şadr) im Koran stets im Literalsinn gemeint ist. Und selbst wenn letzteres der Fall sein sollte, könnte auch ein immaterielles Herz in einer uns unbekannten, unräumlichen Weise derart mit dem materiellen (oder aber subjektiven) Brustbereich in Verbindung stehen, dass die Formulierung in den Brustkörben
berechtigt ist.
Hinzu kommt, dass selbst wenn die Formulierung des Satzes ein Beweis dafür wäre, dass er „die Herzen“ materiell und wörtlich meint, dies immer noch nicht bedeutete, dass es an allen übrigen Stellen des Koran genau so ist. Humanbiologisch und kardiologisch dürfte es nämlich völlig unproblematisch sein, von der Möglichkeit der Erblindung der Pumporgane im Unterschied zu den Augen zu reden. Denn anders als der Augapfel verfügt das Herz nach dem heutigen wissenschaftlichen Stand zur Erfüllung seiner biologischen Funktion über ein autonomes neuronales System, das Signale registrieren und verarbeiten kann. Auch wenn mit diesem System weder Bewusstsein noch Geist einhergehen sollten, lässt sich dieses Registrieren und Verarbeiten als Sehen bezeichnen und der Ausfall desselben dementsprechend als Erblindung. Diese Erblindung an sich mag im religiösen Kontext praktisch irrelevant sein, doch eine auf sie derart Bezug nehmende Redeweise erfüllte durchaus den oben genannten Zweck, bzw. arbeitete mit der Anspielung auf das eigentliche innere Erkenntnisinstrument, mit der impliziten Aufforderung, dieses stärker zu berücksichtigen.
Eher für den Ausschluss eines „zusätzlichen“ Herzens geeignet scheint der Vers, den der darauffolgende Punkt anbringt: Keinem Mann hat Gott zwei Herzen in sein Inneres (jawf) gesetzt
. Ein anderes als das kardiale Herz scheint auf dem ersten Blick hierdurch ausgeschlossen. Die Problematik verschärfend wirkt, dass man wohl sogar übersetzen müsste: irgendwelche zwei Herzen
.19 Doch es dürfte klar sein, dass bei der Existenz eines blinden kardialen und eines sehenden nonkardialen Herzens das eine Herz nie in der Definition ein Herz ist, in der das andere ein solches ist. Dies gilt umso mehr, wenn der Koran in seiner ihm eigenen Sprache das kardiale Organ gar nicht als Herz anerkennt und die Formulierung des Verses auf der Verweigerung dieser Anerkennung beruht (bzw. diese Verweigerung kommunizieren soll). Eine solche Verweigerung lässt sich mit vollem Recht darauf aufbauen, dass der Name „Herz“ in der damaligen populären Definition Eigenschaften impliziert, die das kardiale Organ nicht besitzt. Mehr noch: Demgegenüber fehlte in der damaligen Definition die zentrale Rolle des Kardialherzens im Blutkreislauf, der ja erst Jahrhunderte nach der Entstehung der Definition entdeckt wurde. Eine derart begründbare Vorenthaltung der Anerkennung hätte eine Parallele in dem Prophetenausspruch, der es untersagt, „die Zeit“ (ad-dahr) zu verunglimpfen, weil Gott „die Zeit“ sei.20 Dabei ist am Zusammenhang erkennbar, dass der Prophet hier nicht die Zeit vergöttlichen möchte, sondern andeutet, dass das, was viele Araber ad-dahr nannten, diesen Namen nicht verdiente, weil sie in der wesentlichen Definition mit dem Namen Eigenschaften verbanden, die nur Gott hat und somit eigentlich nur Er es ist, der unter dem Aspekt dieser Eigenschaften es verdient, ad-dahr genannt zu werden. - Ein weiteres Beispiel ist das Wort karm, das im damaligen Arabisch „Trauben“ bedeutete und nicht „Herz“, und dennoch der Gesandte Gottes laut als authentisch klassifizierten Überlieferungen sagte (in Anspielung auf die ursprüngliche Bedeutung „edel“): Sagt nicht karm, denn das Herz des Glaubenden ist das karm.21- In diesem Sinne schlösse der Vers nur aus, dass sich zwei Entscheidungs- und Erkenntnisinstrumente neben- und unabhängig voneinander im Rumpfinneren eines Mannes befinden; zwei Pumporgane nebeneinander oder ein Pumporgan neben einem Entscheidungs- und Erkenntnisinstrument schlösse er aber nicht explizit aus.
Dennoch zulässig ist - bei der Annahme eines immateriellen Herzens - mindestens ebenso die Ansicht, dass in dem diskutierten Vers doch lediglich das kardiale Pumporgan (wenn auch wohl als Anspielung auf die nonkardiale Zentralkomponente oder Anderes) gemeint ist, d.h. dass dem Vers zufolge vor Mohammed nie ein Mensch mit zwei kardialen Herzen zum Mann herangewachsen war. Es fällt nämlich auf, dass der Koran hier, anders als sonst im Zusammenhang mit dem Herzen und „herznahen“ Themen, das einzige Mal jawf statt Şadr benutzt. Es ist sogar das einzige Mal überhaupt, dass der Ehrwürdige Koran dieses Wort benutzt, während Şadr in Singular und Plural 44 mal vorkommt. Das Wort jawf bedeutet „Inneres“, und zwar im Sinne eines Hohlraums (daher ajwaf, „hohl“). Da zu den Haupteigenschaften von Materie das Ausfüllen eines Raums gehört, werden immaterielle Herzen anders als das Pumporgan keinen Hohlraum im Körper ausfüllen.
Was die Überlieferung Anas b. Maliks im dritten Punkt anbetrifft, so ist diese schwierig zu bewerten. So, wie sie bei Muslim steht, weist die Überliefererkette eine leichte Schwäche auf: Der Gewährsmann Hammad b. Salamah ist für seine Aufrichtigkeit, jedoch auch dafür bekannt, dass er in seinen letzten Lebensjahren stark durcheinander kam. Unter diesen Umständen ist es fraglich, ob der Satz „Dies ist der Anteil des Satans an dir“ zum originalen Text gehört, denn er taucht in keiner der von anderen Gewährsmännern überlieferten Versionen mit einigermaßen akzeptablen Überliefererketten auf.22 Ohne diesen Satz könnte das Ereignis problemlos als lebensrettende chirurgische Maßnahme auf einer profanen, medizinischen Ebene durchgehen. Vergleichbar wäre dies mit der physischen Rettung Mose als Säugling, indem seiner Mutter offenbart wurde, ihn in einen Kasten und sodann ins Wasser zu stoßen.
Auch die Sicherheit des Rests der Geschichte ist fraglich. Anas b. Malik wurde erst mehrere Jahrzehnte nach dem beschriebenen Ereignis geboren und konnte somit kein Augenzeuge gewesen sein. Da jemand, der von sich selbst erzählt, kaum auf die eigene Gesichtsfarbe Bezug nehmen wird, liegt der Erzählung sicher kein persönlicher Bericht des Propheten zugrunde. Abgesehen davon wird er während des Eingriffs nicht bei Bewusstsein gewesen sein, die veränderte Gesichtsfarbe deutet schließlich auf die Beibehaltung von Naturgesetzen hin, und eine ergänzende Überlieferung lässt ihn sagen, er habe nicht mitbekommen, was während des Eingriffs passierte.23 Von wem hatte Anas also diese Geschichte, und unter wievielen Leuten war sie in Umlauf, bis sie in dieser Form bei ihm ankam? Warum scheint er der einzige zu sein, der jene Narbe auf der Brust des Propheten gesehen hat und sie einer solchen Geschichte zuordnete, obwohl die Ehefrauen des Propheten die Narbe viel öfter gesehen und ihn dazu befragt haben müssten und dennoch nicht einmal die Top-Überliefererin Aischa b. Abî Bakr darüber ein Wort verliert?
Merkwürdig ist auch, dass die Situation der Herzwäsche mit Zamzam-Wasser, einhergehend mit einer goldenen Schüssel, in einer völlig anderen als authentisch überliefert angesehenen, nämlich in der Himmelfahrt-Geschichte, erneut vorkommt - und wieder ist der Überlieferer Anas b. Malik. Dort jedoch beinhaltet die Schüssel nicht das Zamzam-Wasser, sondern „Weisheit und Gläubigkeit“, und nur ein Teil der Versionen behauptet, das Herz sei dabei entnommen worden, nach den anderen scheint einfach nur direkt das Brust- und Bauchinnere gereinigt worden zu sein. Anas' Himmelfahrtsgeschichte ist deutlich unproblematischer, da er zum Einen deutlich sagt, von wem er sie habe, nämlich von Abu Dharr, der sie ihm, den Gesandten Gottes direkt zitierend, mitteilte, und zum Anderen dieses Zitat selbst andeutet, dass es sich bei dem Ereignis hauptsächlich um eine geistige Vision handelt. Könnte Hammad b. Salamah, der zuletzt häufiger durcheinandergeriet, wegen dieser Überlieferung die Kindheitsgeschichte versehentlich Anas zugeschrieben haben? Wir wissen es nicht, aber Imam Muslim selbst deutet an, dass hier seiner Meinung nach eine Verwechselung mit der Himmelfahrtsgeschichte geschehen und die Version, welche die Situation in die Kindheit verlegt, nicht ganz zuverlässig ist.24
Die im vierten Punkt erwähnten Beobachtungen an Transplantationspatienten nach der Operation stellen weitestgehend Berichte dar, die von dem Nervenchirurgen und Psychologen Paul Pearsall aus Interviews gesammelt und in seinem Buch „The Heart's Code“ veröffentlicht wurden. Die Interviews lesen sich recht interessant und teilweise verblüffend.25 Doch selbst wenn Pearsall nicht ausdrücklich gestanden hätte, dass seine Untersuchungen nur als Anregung gedacht waren und wissenschaftlichen Anforderungen noch lange nicht genügten, hätte die Sache nicht bis ins Letzte überzeugen können:
Eine Recherche zu den wenigen Namen, die von Anhängern der Theorie vom denkenden kardialen Herzen, mit Doktor- und Professorentiteln geschmückt, immer wieder ins Feld geführt werden, wie z.B. Gary Schwartz, Andrew Armour oder auch Paul Pearsall, führt schon bald zu dem Eindruck, dass wir es hier nicht mit seriöser, anerkannter wissenschaftlicher Forschung zu tun haben, sondern im günstigsten Fall mit teils völlig aus der Luft gegriffenen Vermutungen, bis hin zu purem Aberglauben und Esoterik.28 Nicht gerade mehr Vertrauen erweckend ist ebenso, dass der scheinbar wissenschaftliche Terminus „Neurokardiologie“ außer bei Armour und einem privaten „HeartMath Institute“, das zum selben Dunstkreis gehört, praktisch nirgends auftaucht.
Der fünfte Punkt, demzufolge sich der Herzschlag einander anblickender Paare synchronisiere, nennt damit zwar eine definitive Erstaunlichkeit, die es verdient hat, sich näher mit ihr zu befassen, doch die Aussagekraft ist ohne weitere Information recht begrenzt. Es wurde nämlich im Zuge dessen auch festgestellt, dass sich der Atemrhythmus angleicht, was wohl durch unbewusste visuelle Wahrnehmung der Atembewegungen des Gegenübers erklärbar ist. Die Angleichung des Herzrhytmus könnte auf die Angleichung des Atemrhythmus zurückzuführen sein.
Dass, wie im sechsten Punkt erwähnt, das Herz 40.000 Neuronen aufweist und ein starkes elektromagnetisches Feld aussendet, ist ebenfalls bemerkenswert, muss aber ebenfalls nicht viel bedeuten, da auch der Verdauungstrakt eine hohe Anzahl von Neuronen aufweist, um in Teilen unabhängig vom Gehirn funktionieren zu können. Das elektromagnetische Feld ist insofern nicht verwunderlich, da permanente kräftige Bewegungen von Organen naturgemäß ein hohes Maß an Energie umsetzen.
Man mag durchaus das kardiale Herz weiterhin als Kandidaten für das koranische Herz im Auge behalten können. Abgesehen vom Gehirn ist es immerhin schon nach dem heutigen Wissen insofern von allen Organen am direktesten an der Funktionstüchtigkeit des Geistes beteiligt, als dass es das Gehirn mit sauerstoffreichem Blut versorgt und das erste Organ, das im Körper nach einem Herzstillstand irreparable Schäden erleidet, das Gehirn ist. Zwar ist die Lunge ähnlich eng eingebunden, das Herz jedoch noch direkter, da das Herz nach einem Atemstillstand noch restoxygeniertes Blut in das Gehirn pumpen kann.29
Auch wird die Stimmung des Menschen, wenn nicht gar seine Persönlichkeit, maßgeblich von Hormonen beeinflusst. Ohne die Aktivität des Herzens kämen diese Hormone nicht zu ihren Rezeptoren und könnten somit ihre Wirkung nicht entfalten, da sie über den Blutkreislauf transportiert werden.
Es bleibt abzuwarten, welche Entdeckungen die Forschung bezüglich der Eigenschaften des organischen Herzens noch machen wird. Es ist verständlich, dass die Wissenschaft ihr Augenmerk bezüglich der geistigen Fähigkeiten des Menschen solange nicht auf das Herz richten wird, wie selbst das Gehirn eine weitgehend unbekannte und rätselhafte Welt ist. Immerhin lässt sich an der in jüngerer Zeit unter Wissenschaftlern neu aufgeflammten Debatte um die Gültigkeit des Hirntod-Kriteriums zur Feststellung des wirklichen Todes feststellen, dass bezüglich der Rolle des Gehirns im Organismus bis zu einem gewissen Grad noch heute eine Unklarheit besteht. Besonders irritierend ist in diesem Zusammenhang das sogenannte „Lazarus-Syndrom“ bei Hirntod-Patienten. Dieses äußert sich in einigen Fällen durch teils starke Bewegungen und scheinbar emotionalen Reaktionen dieser „Toten“.30
Nichtsdestotrotz existieren schwer von der Hand zu weisende Anhaltspunkte dafür, dass der Ehrwürdige Koran in der Regel nicht das fleischliche Herz meint und sich dies mit empirischen Fakten auch kaum vereinbaren lässt.
So spricht er in Sure 2:118 angesichts einander ähnelnder Aussagen bzw. innerer Haltungen zweier Gruppen von Zweiflern davon, dass sich ihre Herzen ähnelten. Es wird kaum von der Ähnlichkeit rein fleischlicher Herzen die Rede sein, denn diese sind sich bekanntlich grundsätzlich sehr ähnlich, egal welchen Überzeugungen und Haltungen ihre Besitzer anhängen. Es ist davon auszugehen, dass dies dem „Verfasser“ des Ehrwürdigen Koran auf jeden Fall bekannt ist, selbst wenn man meint, der Koran sei lediglich von einem ungebildeten Menschen verfasst worden.
In Sure 9:110 heißt es: Ihr Bau, den sie erbaut haben, wird solange in ihren Herzen als Zweifel verbleiben, bis ihre Herzen in Stücke zerfallen
. Dem häufigen Leser des arabischen Originals des Ehrwürdigen Koran, soweit er die Antiredundanz des Koran und sein Prinzip der maximalen Kompaktheit stets im Hinterkopf hat, wird in diesem Satz eine für koranische Verhältnisse irritierende rhetorische Besonderheit auffallen: Die Wiederholung des Ausdrucks „ihre Herzen“ aus dem Hauptsatz in einem °an-Nebensatz, obwohl es völlig ausgereicht hätte, sich in dem Nebensatz mit einem Pronomen (bzw. einem pronominalen Verbpräfix) auf den Ausdruck zu beziehen. Dies weicht so sehr von der üblichen, derartige unnötige Wiederholungen vermeidenden Vorgehensweise des Ehrwürdigen Koran ab, dass davon ausgegangen werden muss, dass mit der Wiederholung eine subtextuelle Mitteilung konstituiert wird. Dabei scheidet die Möglichkeit aus, dass mit der Wiederholung die Ehrung ihrer Herzen intendiert ist, zumal ihre Herzen offensichtlich das Gegenteil von Ehrung verdient haben. Es bleibt nicht viel Anderes übrig, als dem Ausdruck und seiner Wiederholung zwei grundverschiedene Bedeutungen zuzuordnen: Die erstgenannten Herzen wären demnach nonkardiale Erkenntnisinstrumente, welche als solche Zweifel beherbergen können, die zweitgenannten hingegen wären die kardialen Pumporgane, zumal, falls erstere immateriell sind, es nur zu letzteren angesichts ihrer Materialität denkbar ist, dass sie in Stücke zerfallen
. Der Sinn des Satzes wäre, dass die betreffenden Leute solange (in ihren nicht-fleischlichen Herzen) Zweifel hegen würden, bis sie sterben und infolge des natürlichen Verwesungsprozesses ihre fleischlichen Herzen zerfallen.
Unter der unwahrscheinlichen Annahme, dass die auffällige Wiederholung keine Relevanz habe und der Ehrwürdige Koran doch vom fleischlichen Herzen als Erkenntnisinstrument ausgehe, geriete der Vers mit einem anderen Vers (9:77) in einen Widerspruch, wie weiter unten im Kapitel „Ist es ein immaterielles Herz?“ gezeigt wird, so dass die Anerkennung eines nonkardialen koranischen Herzens auch unter diesem Aspekt unumgänglich ist.
Auch in den prophetischen Aussprüchen findet sich ein indirekter, aber recht gut belastbarer Hinweis darauf, dass das fleischliche Herz nicht mit dem koranischen Herzen verwechselt werden sollte: Hört! Im Körper ist ein Fleischklumpen,
wenn der gesund ist, ist der ganze Körper gesund, und wenn er verdirbt,
verdirbt der ganze Körper. Fürwahr, es ist das Herz.
31 Nun ist unübersehbar, dass es weder im Ehrwürdigen Koran noch in der prophetischen Lehre (sunnah) hauptsächlich um den Körper geht - Gott schaut weder auf eure Körper noch auf eure Gestalt
32 - auch nicht in Verbindung mit dem Herzen. Klar ist durchaus, dass der Gesandte Gottes in dem Fleischklumpen-Ausspruch den Menschen einprägen möchte, dass die Güte des Äußeren von der Güte des Inneren abhängt. Es gibt nur ein Äußeres, auf das der Ehrwürdige Koran und die prophetische Lehre bestehen und das als einziges Äußeres in das Jenseits mitgenommen werden kann: Die Werke. - ... sondern Er schaut auf eure Herzen und eure Werke.
33 - Offensichtlich steht in dem Fleischklumpen-Ausspruch der Körper, da er in Relation zum fleischlichen Herzen etwas Äußeres ist, für die Werke und äußeren Zustände des Menschen und ist somit ein sprachliches Bild. Dies lässt keinen anderen Schluss zu, als dass in dem Ausspruch auch das fleischliche Herz ein Bild ist, andernfalls hätte er vom Verderben der Werke gesprochen statt von dem des Körpers. Als solches muss es für etwas Anderes als das kardiale Herz stehen, und dieses Andere dürfte das nicht-kardiale Erkenntnisinstrument sein.
Was die empirische Ebene betrifft, so mögen die Beobachtungen an Transplantationspatienten interessant sein, doch gerade den hiermit zusammenhängenden Sachverhalt zu Ende zu denken, muss zu einem geradezu vernichtenden Urteil führen. Denn mittlerweile ist es durch den medizintechnischen Fortschritt möglich, Herzkranken künstliche Pumpgeräte zu verpflanzen, die völlig an die Stelle der kardialen Herzen treten. Sie überleben damit Wochen und Monate, ohne dass festgestellt werden konnte, dass sie deswegen ihre Überzeugungen oder gar ihren Verstand verloren hätten.34
Wenn der terminus coranicus qalb meist nicht für die kardiale Komponente des Menschen steht, womit ist diese sonst zu identifizieren? Das einzige materielle Organ, das in der heutigen Wissenschaft - zumindest in einem gewissen Bereich - als Erkenntnisinstrument gilt, ist das Gehirn. Ist es möglich, dass Gott durch die koranische Rhetorik das Gehirn oder Teile davon zum eigentlichen Herzen deklariert?
Es braucht nicht betont zu werden, wie abwegig und suspekt eine derartige Interpretation Vielen erscheinen wird. Dennoch sollte sie nicht voreilig beiseite geschoben werden, sondern in Ruhe geprüft werden. Denn abgesehen von der Ungewöhnlichkeit einer solchen Metaphorik gibt es außer vielleicht Sure 22:46 zunächst kaum eine Handhabe, mit der man diese Metaphorik auszuschließen vermag, noch nicht einmal mit dem Vers Keinem Mann hat Gott zwei Herzen in sein Inneres (jawf) gesetzt
, zumal jawf im Arabischen beim Menschen eher den Innenraum des Rumpfes als den des Schädels meint.
Es bleibt an Koranstellen also wirklich nur noch Sure 22:46: Denn nicht die Augen werden blind, sondern die Herzen, die in den Brustkörben sind, werden blind
. Doch, wie oben schon gesagt - sicher schließt dieser Satz höchstens aus, dass sich die Herzen, die der Satz selbst erwähnt, an einer anderen Stelle als in der Brust befinden, nicht aber unbedingt die Herzen, die in anderen Koranversen vorkommen, auch wenn dieser Vers auf sie anspielen mag.
So wenig dies die Ungewöhnlichkeit des Ansatzes vermindern mag - der Koran hätte gewichtige Gründe für die auf den ersten Blick ungewöhnliche Vorgehensweise, von Herzen und Brustkörben stellvertretend für Gehirne und Schädel zu sprechen.
Der erste naheliegende Grund springt direkt ins Auge: Literarische Ästhetik. Auch der unerfahrene Leser des Koran bemerkt auch unabhängig von diesem Thema schon bald u.a. an der koranischen Redeweise, dass Ästhetik zu den erwählten Prinzipien seines Verfassers zählt, was auch in einem berühmten prophetischen Ausspruch auch explizit erwähnt wird: Gott ist schön und liebt die Schönheit.
35 Auch die literarische Form der Ästhetik gehört unübersehbar zu den Leitlinien des Koran, und dieser Leitlinie würde es eindeutig widersprechen, dieses Buch der Schönheit an über 130 Stellen mit der direkten Nennung von „Gehirnen“ und „Schädeln“ zu durchziehen. Die entstehenden Assoziationen wären schlicht abstoßend und die Wirkung desaströs.
Der zweite gute Grund ist die hohe Wichtigkeit, die damaligen Araber in einer empfindlichen Phase der Ausbreitung der Botschaft nicht durch das Provozieren überflüssiger Nebendebatten von der schon für sich von Beginn an heftig abgelehnten Kernbotschaft abzulenken, nämlich der Kernbotschaft von der Einzigkeit Gottes und dem Kommen des Letzten Tages bzw. dem Leben nach dem Tod. Eine solche Überraschung und Ablenkung wäre sicher zustandegekommen, denn die Rolle des Gehirns war den damaligen Arabern weitgehend unbekannt.
Der dritte gute Grund: Wäre anstelle des Herzens derart zentral von Hirnen die Rede, müsste man dem Ehrwürdigen Koran eine womöglich seinem göttlichen Ursprung widersprechende Schwäche der Rhetorik unterstellen. Denn so sehr das Gehirn für die Entstehung der Grundemotionen verantwortlich sein mag - subjektiv entstehen die meisten dieser Emotionen insbesondere im Brustbereich, wohingegen man im Gehirn in der Regel nicht das Mindeste spürt. Das Kind hier beim Namen zu nennen hätte kommunikationspsychologische Diskrepanzen zur Folge, die für die Zweckmäßigkeit und Qualität jeder Rhetorik geradezu zerstörerisch sind.
Der vierte denkbare Grund gilt für die heutige Zeit: Zu sehr stehen Hirn und Schädel für bloßes kühles Berechnen, Härte und Kälte; die Wichtigkeit von Liebe, Demut und weiterer innerer Haltungen zusätzlich zum Verstand ist mit „Hirn“-Rhetorik nicht ausdrückbar, ganz gleich, inwiefern für den Empfänger wissenschaftlich feststeht, dass das Gehirn all dies leistet.
Die „Herz“-Rhetorik in den Vordergrund zu stellen, impliziert hingegen, dass der Mensch über Transzendentes nachdenken und mit ihm in Kontakt treten kann bzw. muss; der Gehirnbegriff ist für so etwas zu materialistisch und mechanistisch. Die „Herz“-Rhetorik mit ihrer langen Tradition der Verwendungsweise in Sprache und Literatur ist viel geeigneter, nahezulegen, dass der Mensch, sein Denken, sein Entscheiden und sein Erleben mit mehr in Zusammenhang stehen als nur mit Materie.
Zu guter Letzt ist festzustellen, dass die direkte Betonung des Gehirns, ganz zu schweigen von seiner Referenzierung als pars pro toto, sprachlich weder der gottgegebenen Würde des Menschen noch der Würde der vom Koran wertgeschätzten Erkenntnis und des hohen Wissens so angemessen ist wie die Betonung des Herzens.
Methodische Gründe gibt es also genug. Gibt es aber auch eine linguistische Legitimation, Gehirne als Herzen und Schädel als Brustkörbe zu bezeichnen?
In den meisten Sprachen, jedenfalls im Arabischen und in westeuropäischen Sprachen, ist „Herz“ längst eine geläufige Metapher für den inneren Teil eines Innenteils, so spricht man zum Beispiel im Deutschen vom „Herzen der Stadt“, wenn man das Zentrum der Stadt meint, im marokkanischen Berberisch vom „Herzen der Wassermelone“, wenn man nicht das gesamte innere Fruchtfleisch, sondern nur das im tieferen Inneren gelegene davon meint, und im Arabischen von qalb al-balad, wenn man das tiefe Innere einer bewohnten Gegend meint, wo die Einwohnerdichte besonders hoch ist. Es würde also durchaus passen, wenn die gesuchten Gehirnareale räumlich ähnlich im Inneren der Hirnmasse (oder eines relevanten Teils davon) liegen sollten.
Es würde allerdings anstelle der räumlichen schon die funktionelle Zentralität genügen. Interessanterweise denkt noch heute jeder halbwegs biologisch und technisch gebildete Mensch beim Ausdruck „das Herz des PCs“ nicht an das Netzteil, das als „Strompumpe“ funktionell noch am ehesten mit dem Herz im kardiologischen Sinne vergleichbar ist, sondern an die Central Processing Unit (CPU), welche als die zentrale informationsverarbeitende Einheit des Rechners aspektweise sein „Gehirn“ darstellt. Dies unterstreicht die Legitimität der Benutzung des Wortes „Herz“, um Zentralität auszudrücken, und sei diese auch „nur“ funktioneller Natur.
Überraschenderweise führt nicht nur die Metaphorisierung, sondern auch die Entmetaphorisierung des Wortes zu einem Legitimationsansatz. Denn das Wort qalb ist auch als Bezeichnung des kardialen Herzens insofern eine (lexikalisierte) Metapher, als es linguistisch betrachtet ursprünglich nicht „Herz“ bedeutet, sondern „Drehung, Wendung, Umkehrung“ (vom Verb qalaba). Arabische Sprachgelehrte früherer Jahrhunderte erklärten dies damit, dass das „Herz“ des Menschen mit seinen Haltungen und Gemütszuständen zu starken Richtungswechseln in der Lage sei. Dies geht konform mit Stellen aus dem Koran und der prophetischen Lehre, deren Formulierungen ebendies nahelegen.36 In Anbetracht dessen, dass arabische Verbalsubstantive häufig als Alternativformen für Passivpartizipien eingesetzt werden („Gedrehtes, Gewendetes, Umgekehrtes“), bietet sich mit dem Wissen der modernen Neurologie eine weitere Erklärung an. Es ist nämlich bekannt, dass das Gehirn des Menschen grob betrachtet „umgekehrt“ ist: Die linke Gehirnhälfte ist weitgehend für die rechte Körperhälfte und die rechte Gehirnhälfte für die linke Körperhälfte zuständig.
Durch Entmetaphorisierung verschwindet sogar das Problem mit den Brustkörben aus Sure 22:46. Mehr noch: Sollte sich bestätigen, dass der Ehrwürdige Koran in diesem Zusammenhang auf die ursprüngliche Bedeutung von Sadr zurückgreift, träte hiermit eine indikatorische Unnachahmlichkeit erster Güte zutage. Denn schon Ibn Manźôr (ابن منظور, gest. ca. 1312 n. Chr.) gibt in dem entsprechenden Lexikoneintrag zu einer Zeit, als diese Problematik allenfalls schwach existierte, als allererste Bedeutung des gewöhnlich mit „Brust(-korb)“ übersetzten Begriffes Sadr an: „Das Oberste der Vorderseite von allem.“ Nun ist das Oberste der Vorderseite des menschlichen Körpers zweifellos sein Stirnbereich. In dieser Hinsicht und unter Hinzunahme der bereits erwähnten Tatsache, dass das Wort „Herz“ für das Innere oder das Mark einer Sache gebräuchlich ist, ist es nicht ausgeschlossen, dass das Herz in dem Vers zwar nicht den Inhalt des gesamten Schädels, aber das Innere der Stirnbereiche meint: Den präfrontalen Cortex. Ausgerechnet dieser ist Neurologen zufolge wesentlich an Planungs- und Entscheidungsprozessen beteiligt und für die Aufmerksamkeitsregulation verantwortlich, ist Sitz des rationalen und des moralischen Urteilsvermögens, ja sogar der Persönlichkeit und stellt den wohl wichtigsten Unterschied zwischen dem menschlichen Hirn und demjenigen von Primaten dar. Geradezu spannend sind in diesem Lichte wissenschaftliche Indizien, dass im medialen Frontalkortex, also im Inneren des Inneren und somit dem in diesem Sinne möglichen „Herz“ des Frontalschädelinhalts, Glauben und Überzeugung verankert sind.37
Für diese Ansicht spricht, dass der Koran sich zwar nirgends wörtlich auf den Kopf als potentiell sündigende Komponente des Menschen bezieht, während er durchaus den möglichen Frevel des Herzens und der Seele erwähnt, aber der Glaubende dennoch nach dem prophetischen Usus bei der Gebetswaschung, die explizit von Sünden reinigen soll, mit feuchten Händen nicht den Brustbereich, sondern die Oberseite des Kopfes bestreichen soll, damit die Verfehlungen seines Kopfes aus den Enden seiner Haare mit dem Wasser herausfallen
38. Dies könnte gar die Grundlage der Rhetorik in Sure 96:15-16 sein: Doch nein, wenn er nicht aufhört, werden Wir ihn an seiner Stirn[locke] herreissen - einer lügnerischen, verfehlerischen Stirn[locke]39
.
Gegen die Ansicht allerdings scheint zu sprechen, dass der Gesandte Gottes auf seine Brust zeigte, als er drei Mal hintereinander sagte: Die fromme Behutsamkeit (taqwâ) liegt hier.
40 War die dieser Aussage zugrundeliegende göttliche Inspiration nur, dass taqwâ im Inneren liegt, während er aber selbst nichts Genaues über ihre Lokalisation wusste, und wurde deswegen nicht korrigiert, weil die genaue Position weniger wichtig ist, als dass es sich allgemein um etwas Inneres handelt? Schwer zu sagen, immerhin war er tatsächlich weniger zum Humanbiologen bestimmt worden als zum spirituellen Lehrer.
Die andere Möglichkeit ist, dass die These dieses Abschnitts angesichts dieser Überlieferung einer Feinjustierung unterzogen werden muss.
Für eine derartige Feinjustierung könnte man fragen, ob der Ehrwürdige Koran das kardiale Pumporgan zusammen mit dem Hirn nicht als Einheit behandelt, die er „Herz“ nennt. Dies wäre nicht unberechtigt, zumal das kardiale Herz, wie schon erwähnt, abgesehen vom Gehirn von allen Organen insofern am direktesten an der Funktionstüchtigkeit
des Geistes beteiligt ist, als dass es das Gehirn mit sauerstoffreichem Blut
versorgt und das erste Organ, das im Körper nach einem Herzstillstand
irreparable Schäden erleidet, das Gehirn ist. Und wer weiß, ob das kürzlich entdeckte neuronale Geflecht des Herzens nicht doch das Gehirn für kognitive Leistungen ergänzt oder unterstützt und die Erfüllung der Aufgaben des Geflechts nach Entnahme des Herzens vom Gehirn oder anderem neuronalen Gewebe übernommen wird? Das kardiozerebrale Gespann befindet sich zwar nicht nur in der Brust, aber auch nicht weniger in der Brust als ein Baum sich im Boden befindet. Oder mit Şadr ist - linguistisch korrekt - der gesamte obere Vorderbereich des Menschen incl. Stirn und Brust gemeint.
Gegen diese Annahme spricht neben der Ungewissheit, inwiefern eine derartige semantische Methodik überhaupt koranisch ist, dass es fragwürdig ist, mit dem Transzendenten verknüpften Funktionen wie z.B. Wille und Intention eine rein materielle Basis zu geben. Auch wäre es nicht sehr logisch, wenn starke Indizien darauf hinweisen, dass es ein anderes Herz neben dem kardialen gibt und dieses kardiale Herz selbst Teil des „anderen Herzens“ wäre.
Eine ethische Verantwortlichkeit gestehen wir gemeinhin einem Menschen nur zu, wenn wir davon ausgehen können, dass sein Wille und seine Intention nicht völlig von materiellen und physischen Einflüssen bestimmt werden. Somit wäre es passend, wenn das Instrument, das hauptsächlich oder letztendlich zum Fällen ethischer Entscheidungen benutzt wird, immaterieller bzw. transzendenter Natur ist. Dies schließt nicht aus, dass es materiellen Organen wie dem Gehirn ethisch nicht relevante Entscheidungen vollständig überlässt oder es für ethisch relevante Entscheidungen lediglich zuhilfe nimmt oder sozusagen zu Rate zieht, solange der letztlich entscheidende Impuls vom immateriellen Herzen ausgeht.
Vorstellbar wäre, dass wenn das Gehirn zum Ergebnis eines rationalen Denkprozesses gelangt, das immaterielle Herz dann für die transzendent-willentliche (!) Anerkennung oder Verwerfung des Ergebnisses zuständig ist. Dementsprechend kann das Gehirn auf dem gewonnen Ergebnis für weitere Denkprozesse aufbauen oder nicht, so dass die Gesamtrichtung im Denken eines Menschen über sein Leben hinweg betrachtet von den Entscheidungen seines immateriellen Herzens abhängt. Somit wäre es das Herz, welches einen rationalen Denkprozess abschließt oder eben nicht abschließt, und nur der korrekte, willentlich abgeschlossene und ethisch relevante Denkprozess wäre dann wohl das, was der Ehrwürdige Koran mit „Begreifen“ und „tiefgehendem Verständnis“ (عقل und فقه) meint.
Das immaterielle Herz hätte in diesem Lichte die ausgesprochene Eigenschaft eines Empfängers, und genau diese Eigenschaft wird im Koran bestätigt, zumal er sowohl von der „Versiegelung des Gehörs“, als auch - manchmal damit gemeinsam41 - von der „Versiegelung des Herzens“ spricht, worunter wir verstehen können, dass das Herz ebenso ein Empfänger ist wie das Gehör.
Man weiß aus der modernen Neurologie, dass im Hirn gewisse Areale für die Spiritualität zuständig sind, und dass diese bei spirituell-religiösen Menschen stark aktiv sind, während sie bei Atheisten und Materialisten kaum eine oder gar keine Regung zeigen. Es könnte das immaterielle Herz sein, das für die „Abtötung“ dieser Hirnareale durch ständige, konditionierte Unterdrückung oder Vernachlässigung verantwortlich ist. Und durchaus spricht der Ehrwürdige Koran an der einen oder anderen Stelle von physisch lebenden, aber spirituell gestorbenen Menschen.42
Unter der unwahrscheinlichen Annahme, dass die auffällige
Wiederholung in wird solange in ihren Herzen als Zweifel verbleiben, bis ihre Herzen in Stücke zerfallen
(9:110) keine Relevanz habe und der Ehrwürdige Koran doch vom
fleischlichen Herzen als Erkenntnisinstrument ausgehe, bedeutete der
Vers, dass für den Koran Herzenszustände (wie z.B. Zweifel) durch das
Auseinanderfallen des einzigen Herzens irgendwann zwangsläufig unterbrochen und
beendet würden. Dass dies aber gerade nicht der Standpunkt des Koran sein kann, zeigt Sure 9:77. Sie legt nahe, dass für ihn das eigentliche Herz
den materiellen Körper und all seine materiellen Komponenten weit
überdauert: Zur Folge werden ließ Er ihnen daraufhin Heuchelei in ihren Herzen bis zu dem Tage, an dem sie Ihm begegnen werden
(9:77). Die Ununterbrochenheit der Heuchelei in den Herzen würde in
Frage gestellt werden, wenn vor der Begegnung mit Gott , die ja erst am
Tag der Auferstehung stattfinden wird, diese Herzen in den Gräbern
verrotten und zu Staub zerfallen würden. Darum wird es sich wohl um
immaterielle Herzen handeln, welche die materiellen weit überdauern.
Dabei nützt es auch nichts, zu vermuten, dass es für die Legitimierung
der Formulierung des Verses vielleicht hinreichend ist, wenn die
Heuchelei in den Herzen exakt bis zu ihrer Auflösung verbleibt und exakt
bei ihrer Wiederzusammensetzung wieder in ihnen vorhanden ist. Denn der
oben erwähnte Satz aus Sure 9:110, würde er nichts als fleischliche
Herzen kennen, legte auch dann nahe, dass Herzenszustände mit der
Auflösung fleischlicher Herzen durchaus als unterbrochen anzusehen sind.
Wenn das Herz im Koran hauptsächlich eine immaterielle Instanz ist, bedeutet dies, dass das Gehirn im Gotteswort und im Prophetenwort fast gar nicht vorkommt, obwohl es in den Augen der modernen humanbiologischen Anthropologie den Königssitz innehat. Zweifellos dürfte der Koran hiermit auf seine Weise die allgemeine Irrelevanz ethisch irrelevanten Denkens bzw. Begreifens kommunizieren.
Passend zur offensichtlichen Wahrscheinlichkeit, dass mit dem Herzen im Koran in der Regel eine immaterielle Instanz gemeint ist, könnte man sich nun fragen, ob diese mit dem zu identifizieren ist, was der Koran „Seele“ bzw. „Selbst“ (nafs) nennt.
Denkbar wäre nämlich, dass die beiden Termini dieselbe Entität bezeichnen und je nach der Rolle, die diese in dem betreffenden Textzusammenhang spielt, auf den jeweils anderen Terminus zurückgegriffen wird. Steht ihre Rolle als beurteilende oder Überzeugungen und Intentionen hegende Instanz im Fokus, bekäme sie die Bezeichnung „Herz“, während sie „Seele“ genannt würde, wenn z.B. ihre Eigenschaft, potentiell den Körper zu verlassen, im Vordergrund steht. Nach dieser Methodik der rollenabhängigen terminologischen Diversität scheint der Koran durchaus bezüglich anderer Entitäten vorzugehen, z.B. desjenigen Wesens, das er an den einen Stellen Iblis, an den anderen Stellen den Satan nennt, sobald sich seine Rolle als Verführer im Fokus befindet. Wären nicht die Verse 20:116-117, könnte man nicht sicher sein, ob hinter „Iblis“ und „dem Satan“ der Adamsgeschichte43 nicht doch zwei verschiedene Entitäten stehen.
Dabei sollte damit gerechnet werden, dass die Entität Eigenschaften hat, die zu keiner ihrer Rollen spezifisch gehören, bzw. für die der Koran keinen dritten Terminus bereithält, so dass, wenn diese im Vordergrund stehen, mal der eine der beiden Termini und mal der andere benutzt wird. Diese Tatsache lässt sich sogar als ein Schlüssel nutzen, der die Identifikation von Herz und Seele ermöglichen könnte, d.h. wenn zu sehen ist, dass sie sich wesentliche Eigenschaften, die nicht im direkten Zusammenhang mit den terminusspezifischen Rollen stehen, teilen.
Doch ausgerechnet dieser Schlüssel führt scheinbar dazu, die Seele nicht - oder nicht allein - mit dem Herzen, sondern mit dem Rest des Innenbereiches der „Brust“, ihres Inhalts oder ihr selbst zu identifizieren.44 Es ist allerdings möglich, dass das Herz wenigstens eine Komponente der Seele, sozusagen ihr innerer Kern, ist.
Welcher Terminus entspricht im Ehrwürdigen Koran dann aber dem reinen Subjekt, der elementaren Ich-Entität des Menschen, die ja unmöglich aus Komponenten zusammengesetzt sein kann?45 Vielleicht ist es rûħ („[Lebens-]Geist“), vielleicht aber auch ein Teil der insân-Vorkommnisse („Mensch“). Doch eigentlich spielen doch wiederum ein Teil der nafs-Vorkommnisse in diesem Zusammenhang nach wie vor eine wichtige Rolle, zumal das Wort nafs im Koran semantisch zwar weitgehend mit dem Wort „Psyche“ vergleichbar ist, an vielen Stellen hingegen einfach nur das Selbst, also den Personenkern meint. Nur so erklärt sich auch der immense Wert, der dem Gegenstand dieses Wortes in der Schrift Gottes und im prophetischen Usus46 beigemessen wird. Somit gehört es offenbar zu den mehrdimensionalen koranischen Termini. Für Ghazali haben qalb, rûħ und nafs jeweils zwei Bedeutungen und überschneiden sich allesamt in der jeweils zweiten Bedeutung. Das Wort qalb bezieht sich ihm zufolge zum Einen auf das aus seiner Sicht religiös unwichtige Pumporgan und zum Anderen auf die immaterielle, erkennende Essenz des Menschen; das Wort rûħ bezeichnet bei ihm zum Einen den sich im Körper verteilenden Lebensgeist und zum Anderen eben die erwähnte erkennende Essenz; nafs ist für ihn zum Einen die Gesamtheit oder Bereitstellerin der Begierden und Affekte (Peripherseele) und zum Anderen eben die erwähnte Essenz.47
Sollte Ghazali recht haben, dürften sich die Termini qalb und nafs in einem Teil der Vorkommnisse auf ein und dieselbe Entität beziehen. Diese Annahme lässt sich mit den folgenden Punkten unterstützen: 1.) Nie wird explizit auf die Reinigung der Brust, des rûħ oder einer anderen inneren Komponente des Menschen Wert gelegt, außer der Seele (nafs) und des Herzens (qalb): 91:9, 5:41. - 2.) Seele (nafs) und Herz (qalb) sind die einzigen inneren Komponenten, zu deren potentiellen Eigenschaften explizit die zufriedene Ruhe (Toma°nînah) erwähnt werden (89:27, 16:106, 2:260, 3:126, 5:113, 13:28). - 3.) Seelen scheinen Zeichen Gottes (âyât) betreffend Gewissheit hegen zu können, was eine Erkenntnisfähigkeit nahelegt (27:14).
Die Rangstufe eines Beweises für die angenommene Identität können diese drei Punkte jedoch noch lange nicht erreichen.
Besonders gegen eine Identität von nafs und qalb spricht, dass sich das Herz als Instrument darstellt und als solches kaum mit der Seele als Bedienerin des Instruments identisch sein wird. Endgültig entschieden zu werden scheint die Diskussion durch Sure 8:24, da in ihr klar zwischen dem Subjekt und dem Herzen unterschieden wird: Und wisst, dass Gott zwischen eine Person und ihr Herz tritt
Nichtsdestotrotz lässt sich die ansonsten große Nähe zwischen den beiden Begriffen als Hinweis auffassen, dass die nafs eine Komponente des qalb oder sein Kern ist und sie auf es zugreift wie in der heutigen Auffassung das Gehirn auf die Körpergliedmaßen.
Dass mit dem Herzen hauptsächlich der Verstand gemeint ist, ist eine Ansicht, die insbesondere von Kommentaren altvorderer Exegeten zu Sure 50:37 inspiriert ist: Darin liegt wahrlich eine Erinnerung für jeden, der ein Herz hat oder das Gehör hinhält, während er gegenwärtig ist
. Der wichtigste Koranexeget nach Ibn Abbas, Mujahid b. Jabr, soll das Herz in diesem Vers als Verstand erklärt haben,48 Tabari übernahm diese Ansicht. Ibn Ashur scheint sich diese Erläuterung als Rechtfertigung genommen zu haben, davon auszugehen, dass mit dem Herzen im Koran grundsätzlich der Verstand gemeint ist, der für ihn hauptsächlich eine Funktion des Gehirns ist.49
In Wirklichkeit spielt der Vers sicherlich auf den Verstand an, da naheliegenderweise nur ein funktionierendes Herz zu haben es verdient hat, als überhaupt ein Herz zu haben bewertet zu werden und nur ein Herz mit uneingeschränkt aktivem Verstand als ein im koranischen Sinne funktionierendes Herz angesehen werden kann - doch erstens kann man z.B. im alltäglichen Kontext aus der Aussage „Das ist endlich jemand, der einen Kopf hat“, auch wenn damit allein der Verstand gemeint sein sollte, nicht folgern, dass in allen übrigen Aussagen des Sprechers Kopf und Verstand identisch sind; zweitens ist allein schon in dieser Beispielaussage neben der metonymischen Interpretation (Kopf = wacher Verstand) auch die eingrenzende, synekdochische gleichermaßen möglich (Kopf = Kopf mit wachem Verstand).
Mancher Autor aus den Reihen der juristischen Gelehrsamkeit mag uns zwar mit völlig inhaltsleeren und unbelegbaren Definitionen verblüffen, wie z.B. der Verstand sei ein „geisthaftes Licht“ (nûr rûħâniyy), doch es gibt keinen Anlass, in ihm mehr zu sehen als das reine Begriffsvermögen oder aber den Vorgang des Begreifens an sich, wie ja das Wort 'aql (schlichtes Verbalsubstantiv zu „begreifen“) selbst besagt, und wie auch aus dem Koran hervorscheint, der den Verstand in eine Reihe mit Sehen und Gehör stellt und ja ebenso das Gehör kein ominöser Leuchtgeist ist, sondern schlicht das Hörvermögen oder der Vorgang des Hörens an sich. Damit ist der Verstand nicht in das Reich der Entitäten überführbar, sondern eine bloße Funktion bzw. die Fähigkeit hierzu, und als solche ist er gemäß dem Koran allenfalls ein Teil des fu°âd und nicht direkt des qalb, geschweige denn mit ihm identisch.
In dem einen oder anderen Vers kommt der Eindruck auf, dass er sich auf in der bloßen subjektiven Wahrnehmung der jeweiligen Individuen existierende Herzen bezieht, die sich einer objektiven Bewertung im gewöhnlichen Sinne entziehen.50
Dass die Gefühle, die der Koran an vielen Stellen mit dem Herzen in Zusammenhang bringt, subjektiv im Brustbereich entstehen und sich dort ausbreiten, ist nicht nur eine literarische Redewendung oder bloß das Empfinden einiger Menschen, von denen Romanautoren sich haben inspirieren lassen, sondern bemerkenswerterweise eine Wahrnehmung, die auch nach den Ergebnissen einer weithin beachteten Studie praktisch alle Menschen teilen.51
Könnte es sein, dass diese subjektiven Phänomene (die - je nach Definition von „Realität“ - als solche nicht weniger Anspruch auf Realität als sogenannte objektive Phänomene haben) als ein elementarer Bestandteil der Erkenntnisprozesse des Menschen zum fu°âd des Herzens gehören und letzteres lediglich der subjektive Brustinnenbereich ist, in welchem die Empfindungen entstehen?
Was angesichts der traditionell und nicht erst seit René Descartes geforderten scharfen Trennung von Verstand und Gefühl völlig abwegig erscheint, hat durchaus ein Recht, in Betracht gezogen zu werden. Immerhin spricht der Ehrwürdige Koran von einem (zweifellos subjektiven) Weiten oder Verengen der Brust im Zusammenhang mit Entscheidungen, z.B. für oder gegen die Annahme der Religion der Ergebung (islâm).
Und aus der Neurologie wissen wir, dass der Frontallappen im Gehirn des Menschen, der es so grundlegend vom Gehirn von Affen unterscheidet, nicht nur Planung und rationale Entscheidungen ermöglicht, sondern auch die Wurzel so mancher Gefühle darstellt. Der mittlerweile an einer südkalifornischen Universität als Professor für Neurologie und Psychologie tätige Wissenschaftler Antonio R. Damasio schrieb bereits in den 90er Jahren von der Wichtigkeit von Gefühlen für den Abschluss rationaler Erwägungen. In einer Rezension52 seines Buches „Descartes' Irrtum“ schreibt Spektrum-Autorin Manuela Lenzen:
Demzufolge müßte jemand, der keine Gefühle empfindet, besonders rational sein. Antonio R. Damasio, Leiter der neurologischen Abteilung an der Universität von Iowa in Iowa City und Träger mehrerer Wissenschaftspreise, zeigt, warum diese Ansicht verfehlt ist. [...]
Auf die Spur brachten den Autor Patienten mit Verletzungen einer bestimmten Hirnregion, des Stirnlappens. Sie zeigten auffällige Veränderungen ihrer Persönlichkeit, auch wenn sie körperlich anscheinend gesundet waren. Obwohl auch ihre intellektuellen Fähigkeiten nicht beeinträchtigt schienen, waren sie nicht mehr fähig, ihr Leben zu organisieren. Menschen, die vor ihrer Erkrankung erfolgreich im Beruf gestanden hatten, trafen nun Entscheidungen, die sie ruinierten; sie waren unfähig, einen Plan in die Tat umzusetzen oder eine begonnene Sache zu vollenden.
Beeindruckend ist das Beispiel eines Patienten, der, gefragt, ob er lieber zu dem einen oder dem anderen Termin zur Untersuchung kommen wolle, eine halbe Stunde lang Argumente für beide Möglichkeiten aufzählte, ohne zu einem Entschluß zu kommen. Erst nach der Entwicklung neuer Testmethoden fiel auf, was die Behinderung der Betroffenen ausmachte: Ihre Fähigkeit, Gefühle zu empfinden, war weitgehend zerstört worden. Statt nun besonders rationale Entscheidungen zu treffen, konnten diese Menschen sich gar nicht mehr entscheiden.
Damasio geht angesichts seiner Beobachtungen davon aus, dass der Mensch unbewusst seine körperlichen positiven und negativen Gefühle in seine Abwägungsprozesse einbezieht, bzw. diese sogar auf diesen Gefühlen basieren. Falls dem so sein sollte, dürfte den Gefühlen im Brustbereich angesichts ihrer auffälligen Stärke bei Denkvorgängen zweifellos höchste Priorität zukommen.
Dies ist keineswegs ein Plädoyer oder eine Legitimation dafür, objektives, bemüht emotionsfreies Denken mit von Launen beeinflussten Urteilen zu ersetzen. Damasio unterscheidet zwischen zwei Arten von Empfindungen, nämlich denjenigen, die einem angeborenen Automatismus zuzuordnen sind, und denjenigen, die sich aufgrund von Erfahrungen zu einer latenten, denkerisch relevanten Gefühlsstruktur zusammengefügt haben und das Abwägen durch das Überflüssigmachen der Wiederholung tiefgreifender Analysen und Berücksichtigungen erleichtern. Desweiteren ist davon auszugehen, dass gerade die stete Bemühung, emotionsfrei zu denken, so illusorisch ihr Anspruch auch sein mag, die Entwicklung einer gesunden derartigen Gefühlsstruktur zur Folge hat. Immerhin wird auch die Erkenntnis der Wichtigkeit der Trennung von Verstand und Emotion, zu welcher die Intellektuellen aller Welt gelangt sind, auf dem Boden eines „guten Gefühls“ gewachsen sein...
Falls das Herz als subjektives Substrat festgestellt wird, würde sich dies durchaus mit der Ansicht decken, dass es immateriell ist.
Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass der Ehrwürdige Koran und die prophetische Lehre mit dem erkennenden und am Begreifen beteiligten Herz keineswegs das kardiale Pumporgan meinen. Die Frage, womit das erkennende Herz dann sonst zu identifizieren sei, lässt sich am besten damit beantworten, dass es eine immaterielle Komponente ist, die auf eine (nicht unbedingt räumliche) Weise mit dem Brustbereich verknüpft ist, die zusätzlich zu seiner Verborgenheit und Transzendenz es legitimiert, es sprachlich in der Brust zu verorten. Diese Verknüpfung könnte in Zusammenhang mit den statistisch festgestellten subjektiven Brustempfindungen bzw. Damasios Gefühlsstrukturen stehen, die das rationale Denken stützen. Die Annahme einer solchen Verknüpfung oder Verortung ist derweil nicht unumgänglich.
Die Immaterialität des Herzens mag hierbei der Subjektivität seiner Natur geschuldet sein, ohne dass diese Subjektivität allerdings etwas von seiner Realität mindert. Entgegen der landläufigen Meinung sind subjektive Phänomene nicht weniger real als (angenommenerweise) objektiv existierende Gegenstände und diesen auch nicht nachrangig. Der Eindruck der Nachrangigkeit entsteht aus verschiedenen Gründen, zum Beispiel, dass wir bei unseren häufigen Suchen nach objektiven Gegebenheiten zu Unterscheidungszwecken gezwungen sind, subjektive Phänomene nachrangig zu behandeln, und weil subjektive Phänomene häufig folgenlos und nicht in besonders lange Kausalketten eingebunden zu sein scheinen, und wenn, dann sind uns dabei meist keine klaren Gesetzmäßigkeiten wie in der Welt der physikalischen Objekte und Zustände ersichtlich.
Mit dem Herzbegriff des Koran wird nicht infrage gestellt, dass Verstandestätigkeit quantitativ hauptsächlich eine Aktivität des Gehirns ist. Das koranisch relevante rationale Begreifen ist ohne das (nonkardiale) Herz allerdings nicht möglich.
Unwahrscheinlicher ist die Identifikation des koranischen Herzens allein mit dem Gehirn oder Teilen davon. Der Hauptgrund hierfür ist die schwierige Denkbarkeit von Materie als Träger eines mit Verantwortlichkeit ausgezeichneten Willens. Solange es allerdings möglich ist, dass Materie über bisher unentdeckte Eigenschaften verfügt, welche die Annahme einer immateriellen Komponente obsolet machen, sollte eine derartige Identifikation nicht völlig ausgeschlossen werden. (Außerdem ist eine Feinjustierung dieser Identifikation möglich, zwar nicht mit dem kardialen Herz und dem Gehirn als koranisches Herz, aber angesichts der bemerkenswerten Übereinstimmungen sollte in Erwägung gezogen werden, dass eine immaterielle Komponente zusammen mit dem Frontalbereich des Hirns das koranische Herz bildet.)
Die terminologische Systematisierung, die sich aus den Betrachtungen herauskristallisiert...
... wobei unklar (wenn auch zweitrangig) ist, ob es subjektive oder immaterielle Brustinhalte gibt, die keiner der genannten Komponenten entspringen.
Für das religiöse Leben dürfte die Frage nach der Identität des koranischen Herzens derweil kaum eine Rolle spielen, denn auch ohne ihre genaue Beantwortung weiß jeder gesunde Mensch in sich zwischen den tiefen und den eher oberflächlichen geistigen und gefühlsmäßigen Innerlichkeiten zu unterscheiden, so dass er unabhängig von der räumlichen Position ihres Trägers auf den Appell des Ehrwürdigen Koran hin weiß, worum er sich zu kümmern hat.
Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt.(Blaise Pascal, Pensées IV, 277). Vgl. auch im Neuen Testament 1. Korinther 14,14-16.
Gott sagte: ‚Die Kinder Adams beschimpfen die Zeit. Die Zeit bin jedoch Ich: In Meiner Hand liegen Tag und Nacht.’“ Sahih Muslim, kitâbu l-°alfâź, Nr. 2246: „Nach Abû Hurayrah habe der Gesandte Gottes gesagt:
Beschimpft nicht die Zeit, denn Gott ist die Zeit.“
Zwei Männer mit weißer Kleidung kamen zu mir und legten mich hin. Sodann schnitten sie meinen Bauch auf. Bei Gott, ich weiß nicht, was sie gemacht haben.(Allerdings ist Muhammad ibn Ishaq Teil der Überliefererkette, der hier per 'an'anah überliefert, darum dürfte Albaniys Einstufung des Hadiths als schwach korrekt sein.)
Oh Du Wender der Herzen, festige mein Herz in Deiner Religion.und:
Die Herzen befinden sich zwischen zwei Fingern Gottes, so dass Er sie wendet, wie Er will.(Sahīh Muslim, Sunan-Werk des Tirmidhiy, laut Albaniy authentisch)