Die Bestimmung
Wie passen das koranische Konzept der Allbestimmung und die ebenso koranische Lehre von der Gerechtigkeit Gottes zusammen, wenn die Menschen doch trotz dieser Allbestimmung im Jenseits belohnt bzw. bestraft werden? Und fördert die Lehre der Allbestimmung nicht die Tatenschwäche und somit die Rückständigkeit der menschlichen Gesellschaft, obwohl der Koran sagt, er leite die Menschen zum idealen Weg?
Hiermit ist kein Widerspruch feststellbar, denn:
- Solange weder das Wesen Gottes und Seines Willens, noch das Wesen der menschlichen Seele und ihres Willens bekannt sind, lässt sich kein Widerspruch zwischen beiden feststellen. Man kann nicht sagen, zwei Dinge widersprächen sich, ohne zu wissen, was diese Dinge eigentlich sind.
- Wer meint, die göttliche Gerechtigkeit und die Bestimmung schlössen einander aus, ist meist dem Fehler der Gleichsetzung zweier grundverschiedener Begriffe erlegen: „Urheberschaft“ und „Verantwortlichkeit“. (Dasselbe gilt für parallele Begriffspaare wie „Kraft“ und „Schuldfähigkeit“.) Doch in Wirklichkeit kann bekanntlich jemand Urheber eines positiven oder negativen Ereignisses sein, ohne dafür Lob oder Tadel verdient zu haben - zugleich kann jemand dies verdient haben, ohne an der Verursachung des Ereignisses aktiv beteiligt gewesen zu sein.1 - Daraus folgt, dass das Konzept der Bestimmung aus logischer Sicht zunächst nur eine Urheberschaft im engsten Sinne ausschließt, nicht jedoch die Verantwortlichkeit.
- Solange die Leute mit den besten Taten ins Paradies und die mit den übelsten Taten in das Feuer eingehen und nicht umgekehrt (!), lässt sich auch unabhängig vom vorigen Punkt und davon, ob die Subjekte einen eigenen Willen haben oder ihn sich nur einbilden, von Gerechtigkeit sprechen. Dies wäre sogar die höchste denkbare Gerechtigkeit, sofern sich heraustellen sollte, dass Willen/Freiheit/Verantwortlichkeit von Geschöpfen unlogische Konstrukte sind2.
- Dass das Konzept der Allbestimmung zusammen mit den übrigen Lehren weder dem Fortschritt der Gesellschaft im Weg steht noch demotivierend ist, zeigen die allerersten Generationen der Muslime, durch die in frappierend kurzer Zeit ein beispielloses Weltreich samt der wohl beeindruckendsten Hochkultur der Geschichte entstand.
- Statt um einen Fehler handelt es sich hier sogar um eine der indikatorischen Erstaunlichkeiten des Koran, die für seinen übermenschlichen Ursprung sprechen. Denn kein falscher Prophet, der hofft, dass sich seine Anhänger für ihn und seine Ideen bis zum Äußersten einsetzen, würde das Konzept der Allbestimmung in seine Lehre einbauen, da er sich sonst ihres vollen Einsatzes nie sicher sein könnte.
1 Ein entsprechender Ausspruch wird auf den Propheten (s) zurückgeführt:
„
Wenn auf der Erde eine Verfehlung begangen wird, ist einer, der dabei ist und sie missbilligt, wie einer, der nicht dabei ist. Wer nicht dabei ist, ihr aber zustimmt, ist wie einer, der dabei ist.“ (Sunan Abî Dâwûd, kitâb al-malâħim, Nr. 4345; mittlere Authenzitätsstufe)
2 Gleichwohl sollte hiervon nicht ausgegangen werden, da dies
nicht wissbar ist und davon auszugehen sich kontraproduktiv auswirken kann.