Ein Tag bei Gott: 1.000 oder 50.000 Jahre?
Ist nicht an zwei Stellen (22:47 und 32:5) für Gott ein Tag 1.000 Jahre lang und an einer Stelle 50.000 Jahre (70:4)?
Hiermit ist kein Widerspruch feststellbar, denn:
- Nur an einer einzigen Stelle, nämlich 22:47, steht etwas, dessen Übersetzung mit „ein Tag für Gott“ (technisch) möglich ist.
- Es handelt sich hier um verschiedene Tage in verschiedenen Zusammenhängen, wie sich beim Nachlesen der Stellen schnell feststellen lässt.
- Wir wissen heute, dass die Tage der Planeten unseres Sonnensystems teils völlig unterschiedliche Längen haben (Erde 24 Stunden, Jupiter ca. 10 Stunden, Venus fast zwei Monate).
- Die moderne Physik weiß, dass im Universum an unterschiedlichen Stellen und bei unterschiedlichen Geschwindigkeiten die Zeit unterschiedlich schnell vergeht.
- Wörtlich heißt es in 22:47
ein Tag bei Gott
. Im Koran meinen Ausdrücke wiebei Gott
undbei ihrem Herrn
etc., wenn €inda für „bei“ verwendet wird, sehr häufig erkennbar den Aufenthalt im Paradies,1 so dass naheliegt, dass hier ein Tag im Paradies gemeint ist.2 Ebenfalls nicht wirklich abwegig ist, dass das gemeinte Bei-Gott-Sein ein mentaler Zustand ist, durch den die Zeit subjektiv anders vergeht.3 Über Gott selbst {erh.} vergeht selbstverständlich keine Zeit. - Selbst die Übersetzung „Ein Tag ist für Gott wie tausend Jahre“ wäre unproblematisch, denn es ist klar, dass für den, über den keine Zeit vergeht, die Länge eines Tages genau so wenig wichtig ist wie die Länge von tausend Jahren, aber auch genau so wenig wichtig wie 50.000 Jahre und länger (vgl. Sure 97:3).
- Auch für den Fall, dass nicht die bloße Unterschiedslosigkeit wie im vorigen Punkt, sondern die Mitteilung eines echten Maßstabs gemeint sein sollte, gibt es kein Problem, da nirgendwo steht, ein Tag sei und werde für Gott immer und ausnahmslos 1.000 Jahre umfassen. Der Satz lässt also Ausnahmen zu, ohne dass ein Widerspruch entstünde. Da über Gott keine Zeit vergeht, gäbe es keinen Zweifel, dass jene 1000 Jahre eine freie Bestimmung Seinerseits wären4 und diese jederzeit durch eine neue Bestimmung ersetzt werden kann, erst recht anlässlich des Tages des Jüngsten Gerichts, in dessen Zusammenhang die 50.000 Jahre in Sure 70:4 offensichtlich stehen.
1 Besonders gut sichtbar in Sure 43:35, 3:195-199 und anderen Stellen.
2 Ein als authentisch eingestufter Hadith scheint dies zu bestätigen:
„Die Armen der Muslime treten einen halben Tag vor ihren Reichen ins Paradies ein.
Und das sind 500 Jahre.“ (Sunan Abî Dâwûd, Hadith Nr. 3666; Sunan at-Tirmidhiyy, Hadith Nr. 2354)
3 An Gott zu denken, wird im Koran und in der prophetischen Lehre an verschiedenen Stellen als mit Gottesnähe einhergehend dargestellt. Der permanente Empfang von göttlicher Inspiration, wie er bei den Engeln wohl vorherrscht, und der damit einhergehende mentale Zustand sind naheliegenderweise erst recht geeignet, abkürzend und prägnant als Bei-Gott-Sein umschrieben zu werden (vgl. Sure 19:52; s. auch das Wort „Kommunikation“ sowie die präexistentielle Kommunikation zwischen Gott und den adamitischen Seelen nach 7:172, in Verbindung mit der koranischen Rede einer Rückkehr der Menschen zu Gott), zumal physische Nähe, selbst wenn sie denkbar wäre, in der Schöpfer-Geschöpf-Beziehung ja jeglicher Relevanz entbehrte; man denke auch an die deutschen Adjektive „geistesgegenwärtig“ und „geistesabwesend“. Tatsächlich schreibt der Koran Engeln ein Bei-Gott-Sein zu (7:206, 41:38, in einer Lesart auch 43:19). Es lässt sich sehr gut denken, dass sich das subjektive Bei-Gott-Sein und das damit zusammenhängende seelische Wohlbefinden, analog zu anderen Formen des Wohlbefindens, nur eben stärker, auf das Zeitgefühl auswirken. - Übrigens: Gemäß der Relativitätstheorie vergeht die Zeit bei hohen Geschwindigkeiten langsamer, so dass ab einer gewissen Geschwindigkeit auf dem Startort theoretisch tatsächlich 1.000 Jahre und für den mit dieser Geschwindigkeit Reisenden bei seiner Rückkehr nur 24 Stunden vergangen sein können. Falls Engel sich prinzipiell und permanent mit einer solchen Geschwindigkeit bewegen (die extrem nahe an, wenn auch immer noch unterhalb der Lichtgeschwindigkeit läge) oder eine Art Naturgesetz existiert, durch das theoretisch jedes Subjekt ab jener Geschwindigkeit beginnt, in jenen Zustand zu treten oder zumindest einen Teil der Engelwelt wahrzunehmen, könnten solche relativistischen Effekte eine Rolle spielen.
4 Legt man das bei Tabariyy und Qortobiyy überlieferte Verständnis
des altvorderen Koranexegeten Mujâhid b. Jabr zu Sure 32:5 zugrunde, ließe sich
sehen, welcher Art diese Bestimmung sein bzw. worauf sie sich beziehen könnte.
Wohl da sich fî auch mit „bezüglich“ übersetzen lässt, soll
er davon ausgegangen sein, dass Sure 32:5 bedeutet: „Er dirigiert die Angelegenheit[en]
vom Himmel zur Erde bezüglich eines Tages,
dessen Ausmaß tausend Jahre von dem sind, was ihr zu zählen pflegt.“ Dies würde
mehr oder weniger bedeuten, dass die den Engeln vergebenen Aufträge je
einen Zeitabschnitt der Menschheitsgeschichte verwalten sollen, der stets 1.000 Jahre lang ist.
Der Abstand zwischen den Vergaben selbst mag ein anderer sein. „Ein Tag für Gott“
wäre wieder kein Tag, der über Gott vergeht, sondern der Intervall, den er die Engel
beim Ausführen Seiner Aufträge einzuhalten vorschreibt. - Verstanden als „ein Tag bei
Gott“, mag er wiederum die Zeit meinen, den eine Engelgruppe verbringen muss, um
einen Auftrag oder eine Sammlung von Aufträgen vollständig zu empfangen.