Der Rang Esras im Judentum

In Sure 9:30 heißt es in etwa: Und es sagten die Juden: Esra ist der Sohn Gottes. Und es sagten die Christen: Der Messias ist der Sohn Gottes. Das ist ihre Aussage mit ihren Mündern. Sie ahmen die Aussage derer nach, die zuvor entkennend geworden waren. Wie kann dies sein, obwohl sich keine Stelle in der hebräischen Bibel findet, die Esra direkt einen Sohn Gottes nennt?

Hiermit ist kein Fehler nachweisbar, denn:

  • Auch an anderer Stelle im Koran (5:64) heißt es „die Juden sagten“, ohne dass etwas anderers aus dem dortigen Zusammenhang hervorgeht, als dass es sich um eine einzelne historische Begebenheit zur Zeit des Propheten (s) handelt. So liegt es nahe, dass die Aussage, Esra sei der Sohn Gottes, nicht zum offiziellen heutigen Judentum gehört, sondern nur zu der damaligen Gruppe in Medina. Der Sinn, den Satz auch für die künftigen Zeiten im koranischen Text zu belassen, statt ihn zu abrogieren, mag darin begründet sein, den späteren Muslimen einen Anhaltspunkt zu bieten, der sie heute erkennen lässt, dass es nicht die Juden zeitunabhängig und allgemein sind, deren Bekämpfung in der umgebenden Passage die Rede befohlen wird.
  • Eine durchaus zunächst sehr abwegig scheinende, aber nicht völlig ausgeschlossene Möglichkeit ist, dass vom offiziellen Judentum in der Zukunft explizit eine Gottessohnschaft Esras behauptet werden wird. Wenn jene Juden aus demographischen Gründen zur großen Mehrheit im Vergleich zu allen bisherigen jüdischen Generationen werden, passt auch der bestimmte Ausdruck „die Juden“. In diesem Fall würde es sich bei jener koranischen Aussage um eine zeitenübergreifende Aussage handeln, was insofern passt, als der Koran die Botschaft Gottes auch an die Generationen nach Mohammed (s) ist.
  • Es ist von so mancher Religionsgemeinschaft, so auch von den Juden1 und sogar den nominellen Anhängern des Islam, bekannt, dass ihre religiöse Elite oder ein Teil von ihr Geheimlehren pflegte, die sie vor der Allgemeinheit verborgen hielt. Darum ist nicht undenkbar, dass die Lehre von einer Gottessohnschaft Esras in manchen jüdischen Gelehrtenkreisen noch heute unter Ausschluss der Allgemeinheit rein mündlich tradiert wird (s. Sure 5:61) und der beanstandete Vers eine Bewahrheitung eines anderen Gotteswortes ist, nämlich des folgenden, das direkt an Juden gerichtet ist: Und heraus wird Gott bringen, was ihr zu verhehlen pflegtet (Sure 2:72).
  • Wie auch manche Christen lediglich an eine nicht-leibliche Gottessohnschaft glauben, werden auch jene Juden keine leibliche gemeint haben, sondern, dass Esra bei Gott den Status eines Sohnes habe (Auch diese Ansicht ist nach dem Maßstab des Koran zu verurteilen, der Vorwurf der Nachahmung lässt sich sogar als Hinweis verstehen, dass es schon die reine Formulierung bzw. äußere verbale Nachahmung ist, die in 9:30 verurteilt wird). Esra gehörte zum Volk der Kinder Israels. Nun heißt es tatsächlich im jüdischen Tanach noch heute, Gott habe gesagt: „Und der HERR sprach zu Mose: [...] du sollst zu ihm (d.h. zu Pharao) sagen: So sagt der HERR: Israel ist mein erstgeborener Sohn.“ (2. Mose 4,21-22) Oder: „Da Israel jung war, hatte ich ihn lieb und rief ihn, meinen Sohn, aus Ägypten.“ (Hosea 11,1) Hier wird ganz Israel als Sohn bezeichnet. Eine interessante Parallele dazu findet sich im Koran (5:18): Und es sagten die Juden und die Christen: Wir sind die Söhne Gottes und Seine Lieblinge. Sag: Warum peinigt Er euch dann für eure Sünden? Nach jüdischer Ansicht zählt Esra also in jedem Fall zu den „Söhnen Gottes“. Die Formulierung „der Sohn“ braucht hierbei nicht anders denn als nochmalige, auf den Rang bezogene Hervorhebung gedeutet zu werden, und in der Tat wird Esra von den Juden noch heute aufgrund seiner historischen Verdienste um die Wiederherstellung der Religion als größte Persönlichkeit nach Moses oder gar auf gleicher Stufe mit ihm stehend angesehen. - In diesem Lichte wäre es sogar eher äußerst überraschend, wenn nicht zu irgendeiner Zeit die mündlich-umgangssprachliche Titulierung Esras als Sohn Gottes unter den Juden üblich gewesen sein sollte.
  • Vor dem Hintergrund der eben erwähnten Koran- (5:18) und Bibelstellen ist es interessant, dass Esra in der nach aktueller Forscheransicht im Kern auf jüdische Autorenschaft zurückgehenden Esra-Apokalypse „der Liebling Gottes“ genannt wird2 und im weiteren Verlauf recht deutlich der Status eines Sohnes nahegelegt wird.3
  • Wäre der Bericht des Verses als gewöhnliche Rede eines unbekannten Menschen in einem Fragment auf der Arabischen Halbinsel entdeckt worden, wäre er für jeden Historiker und Laien als großartiges Zeugnis von der Gestalt des damaligen dortigen Judentums in Frage gekommen. Wo er nun aber im Sendschreiben Gottes vorkommt, wollen einige ihn stattdessen als Beleg für das Vorliegen von Fehlern in  dem Sendschreiben missbrauchen - inkonsequenterweise.
1 Rolf Gögler: „Zur Theologie des biblischen Wortes bei Origenes“, Düsseldorf 1963, S. 166; Ernst Rudolph Redepenning, „Origenes: eine Darstellung seines Lebens und seiner Lehre“, Bonn 1841, S. 224.
3 Esra wird als Gott frech kritisierend dargestellt und ihm schon hierdurch implizit ein Rang oberhalb eines Knechtes - eben der eines Sohnes - zugesprochen. Relativ explizite Stellen finden sich jedoch ebenfalls: Da sagte Esdras (Esra): Wir möchten hier vor deinen Ohren rechten! Gott sagt: Fragt euren Vater Abraham, was es doch heiße, wenn schon ein Sohn mit seinem Vater rechtet! (Ebd. 2,5-6) Da sagte der Prophet (d.h. Esra): Denk an die Schriften! Mein Vater, der du einst Jerusalem vermessen und dieses wieder aufgerichtet hast! (Ebd. 2,22) Da sagte der Prophet: Du weißt es, Herr, daß ich ein menschlich Fleisch besitze. Wie kann ich da des Himmels Sterne, den Sand des Meeres zählen? Gott sagt: Mein auserwählter Sohn! Es weiß kein Mensch von jenem großen Tag und der Erscheinung für das Weltgericht. Nur dir zuliebe, mein Prophet, red ich von jenem Tag. (Ebd. 3,1-4). All diese Stellen befinden sich innerhalb der Bereiche, die in der Forschung für den jüdischen Kern dieser christlichen Überlieferung gehalten werden.


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