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Gott: Nahe oder fern?

Mal heißt es im Koran, Gott sei dem Menschen näher als seine Halsschlagader (50:16), andererseits ist Er „der Höchste“ (87:1) und Sein Ort scheint Sein Thron zu sein (20:5). Sogar eine Entfernung scheint der Koran anzugeben, als seien 1.000 oder 50.000 Jahre nötig, um Ihn zu erreichen (32:5; 70:4). Wie kann Er dann näher als die Halsschlagader sein?

Hiermit ist kein Widerspruch feststellbar, denn:

  • Versehentliche Widersprüche sind bei in Konflikt stehenden Aussagen zu erwarten, die in einem Buch so weit auseinanderliegen und so gering in der Anzahl sind (z.B. zwei oder drei Aussagen), dass sie es denkbar erscheinen lassen, der Verfasser könnte ihre Widersprüchlichkeit übersehen haben. Doch die auf Gott bezogenen Ortsbezüge, die naiv bzw. wörtlich verstanden teils widersprüchlich erscheinen können, kommen im Koran in einer solchen Häufigkeit und Dichte vor, dass sich ein Vorliegen versehentlicher Widersprüche ausschließen lässt. Daher kann es sich bei den erwähnten Ortsbezügen auch keineswegs um echte Widersprüche handeln, sondern sie erwecken vielmehr den Eindruck, dass die Frage nach dem physischen Ort in Bezug auf Gott für den Sprecher irrelevant, wenn nicht gar völlig sinnlos ist.
  • Etwas, dessen Wesen außerhalb von Raum und Zeit existent ist, ist für die raumzeitlichen Geschöpfe auf physischer Ebene natürlich unerreichbar und im Sinne dieser Unerreichbarkeit unendlich weit entfernt - diese unendliche „Entfernung“ ist vorzugsweise als vollkommene Höhe zu bezeichnen.1 Andererseits sind für Gott im Zuge Seiner Allmacht alle Geschöpfe jederzeit und uneingeschränkt erreichbar - Sein Wesen braucht nicht die geringste Distanz zu überwinden, um ein beliebiges dieser Geschöpfe zu verändern, zu erhalten oder seiner gewahr zu sein. Dies ist vollkommene Nähe.
  • Gerade die Aussage, Gott sei unermesslich hoch und zugleich überaus nahe, trägt zur Erhabenheit der koranischen Rhetorik bei und lässt sich als bewusste Anspielung auf die Nichträumlichkeit bzw. Unbegreiflichkeit Seines Wesens verstehen.
  • In den Versen handelt es sich um die Engel und den Geist (wsch. Gabriel), sowie um eine scheinbar abstrakte „Angelegenheit“ oder einen abstrakten „Befehl“ (amr), die zu Gott emporsteigen. Da nun derart Abstraktes kaum räumliche Eigenschaften haben wird und sowohl das Wesen Gottes und das Wesen der Engel, als auch das Emporsteigen außerhalb des menschlichen Erfahrungsbereichs liegen, ist auch die Art des Emporsteigens unbekannt, so dass es keinen Grund gibt, es als naiv-räumliches Emporsteigen zu definieren.
  • Auch unabhängig von der Frage nach der Art des Emporsteigens: Nirgends steht explizit, dass die Engel Gott auch erreichen, und erst recht nicht in direktem Bezug auf Sein Wesen. Für die Rechtfertigung einer Formulierung des „Reisens zu Gott hin“ genügen der Beginn der Unternehmung und das Vorhandensein einer entsprechenden Absicht. Man vergleiche den Satz: „Ich spazierte zum See. Doch mitten auf dem Weg dorthin begann es zu regnen. Darum kehrte ich umgehend nach Hause zurück.“ Man beachte, dass der See längst nicht erreicht wurde, jedoch die Absicht bzw. Zielsetzung die Formulierung „zum See“ rechtfertigt. Der berühmte Botaniker und Pharmakologe Ibn al-Baitar (gest. 1248 n. Chr.) schrieb über eine spezielle Honigsorte: „Hebt man etwas von ihm mit dem Finger in die Höhe, fließt es zur Erde, ohne abzubrechen.“ (إذا أنت رفعت منه شيئاً بأصبعك سال إلى الأرض ولم ينقطع) Hier wird er kaum im Sinn gehabt haben, dass der Honig die Erde erreiche, sondern nur, dass er zurück in den Honigtopf fließt.
  • Anhand anderer Stellen im Koran ist zu sehen, dass in der typischen Rhethorik des Koran die Reise zu Gott nicht wörtlich zu verstehen sein muss, nämlich dort, wo Abraham sich von Seinem Volk trennt und ankündigt, in ein Land auszuwandern, in welchem Er Gott ungestört vereinzigend anbeten kann, ohne zu meinen, Ihn physisch erreichen zu wollen: Und er sagte: Ich werde zu meinem Herrn hin auswandern2 Und er sagte: Ich werde zu meinem Herrn gehen, Er wird mich rechtleiten3 Oder unabhängig von der Abrahamsgeschichte: Und wer aus seinem Haus hinausgeht, auswandernd zu Gott und Seinem Gesandten...4 So flieht hin zu Gott. Ich bin euch von Ihm ein deutlicher Warner5 Wer will, nehme einen Weg zu seinem Herrn6
  • Im Falle des naiv-räumlichen Emporsteigens ist auch denkbar, dass die Engel schlicht zu einer Stelle reisen, an welcher sie ihre Befehle von Gott empfangen, ähnlich wie man jemanden zu einem fest angebrachten Telefon hin rufen kann, indem man zu ihm sagt: „Deine Mutter ist am Telefon und möchte mit dir sprechen. Komm bitte zu ihr.“ - Die Zielstelle kann auch eine sonstige Stelle sein, die von Gott dazu bestimmt wurde, eine solche zu sein, die bei ihr anzukommen eine Ankunft bei Gott repräsentiert.  Es kann schlicht die Stelle sein, zu der sie von Gott hingerufen wurden, wie auch im Koran das Kommen zur Kaaba als Kommen zu Abraham, der zu ihr hinzukommen aufrief, bewertet wird: Und rufe unter den Menschen die Pilgerfahrt aus, und sie werden zu Fuß laufend zu dir kommen.7
  • Es ist den Versen nicht entnehmbar, dass das Emporsteigen 1.000 oder 50.000 Jahre dauert, sondern dass dieses Emporsteigen an zwei verschiedenen derart langen Tagen stattfindet. Das Emporsteigen selbst kann auch jeweils einen bloßen Augenaufschlag dauern oder völlig ohne Zeitverzögerung geschehen. Die beiden Tage gehören jedenfalls sehr wahrscheinlich zu der Epoche nach dem Ende dieser Welt, bzw. zu den Tagen, die den letzten aller Tage konstituieren.8
  • Da sowohl das Wesen Gottes, als auch das Wesen des Thrones und die Etablierung darauf (istawâ) transzendent sind, eignen sich Verse wie Sure 20:5 nicht, um Gott eine unserer menschlichen Vorstellung entsprechende Verortung zuzuordnen.
  • Es existiert zwar tatsächlich eine gewaltige Schöpfung, die Gott im Koran an anderer Stelle „den Thron“ nennt (9:129; 21:22; 23:86; 69:17), jedoch ist fraglich, ob sich das Wort „Thron“ auch in 20:5 auf diese real-existierende Schöpfung bezieht oder aber ein nicht-isolierbarer Teil einer idiomatischen Wendung ist.9
1 Der Ausdruck „weit entfernt“ (ba€îd) für den bloßen Entfernungsbegriff wird genau genommen nirgends im Koran auf Gott angewendet. Der Nutzen dieser Vermeidung liegt darin, dass die Assoziationen der Abwesenheit und Ignorierbarkeit verhindert werden. Hinzu kommt, dass der Begriff geradezu steril wirkt und keinerlei Nutzen für die Hochschätzung Gottes hat. Aus einem authentisch überlieferten Prophetenwort geht recht deutlich die Verpöntheit der Assoziationen des bloßen Entfernungsbegriffs sowie die gottesdienstliche Priorität des Nähebegriffs und seiner Assoziationen hervor: „Überanstrengt euch nicht (in der Lautstärke des Bittgebets), denn ihr ruft weder einen Tauben noch einen Abwesenden an, sondern es ist ein Hörender und Naher, den ihr anruft.“ (Saħîħ al-Bukhâriyy, Hadith Nr. 6236 u.a.) - Wohl aber wird im Koran das Adjektiv „hoch“ (€aliyy) auf Gott bezogen. Dieses passt zum Einen hervorragend hinsichtlich der Unabhängigkeit Gottes von Raum und Zeit (Erhabenheit über Raum und Zeit, Überräumlichkeit“), zum Anderen ist es - anders als der sterile Entfernungsbegriff - geeignet, weitere, ehrende Bedeutungen zu tragen (Hoheit, Majestät, Überblick, Macht und Überlegenheit wie in Sure 20:68).
2 Sure 29:26
3 Sure 37:99
4 Sure 4:100
5 Sure 51:50
6 Suren 73:19; 76:29
7 Sure 22:27, so auch von Tabariyy u.a. verstanden
8 Die Ansicht, dass der Jüngste Tag aus mehreren Tagen besteht, ist im Kommentar des Qortobiyy zu Sure 32:5 erwähnt. Er selbst geht dort davon aus, dass sich 32:5 auf das Jenseits bezieht.
9 Dem Sprachwissenschaftler Fayyûmiyy (gest. 1368 n. Chr.) in seinem Werk al-miSbâħu l-munîr zufolge ist der Ausdruck istawâ €ala s-sarîr eine feststehende hocharabische Redewendung, welche auch unabhängig vom Sitzen die Übernahme der Königsherrschaft bedeutet. Bezogen auf Gott wäre es dann wohl „sich als König zu erkennen geben“ oder „als König agieren“, d.h. nicht nur zu erschaffen und zu formen, sondern auch Gesetzmäßigkeiten einzurichten und z.B. den Engelsheeren fortwährend Befehle zu erteilen, wie dies in Sure 20:50 bestätigt wird. Das Wort sarîr („Hochsitz, Hochbett“) verhält sich weitgehend synonym zu €arš („Thron“), letzteres wird im Vers benutzt und passt offensichtlich noch besser zur Bedeutung der Redewendung. Angesichts der grammatischen Perfektform von istawâ kommt für die Bedeutung auch einfach „König sein“ in Frage. Diese Ansicht wird unterstützt durch eine laut Nâsiruddîn Albâniyy authentisch überlieferte Aussage des altvorderen Koranexegeten Ibn Abbâs, der in seiner Aussage das Wort „Thron“ offenbar nicht auf etwas Erschaffenes bezieht: „Gott war auf Seinem Thron, bevor Er irgendetwas erschuf.“ (Original und Quelle hier)

Gott: Höher als alles (I)

Wenn Gott höher als das Universum ist, bzw. Sein Wesen nicht im physischen Sinne positioniert ist, wie kann es dann heißen: „Wenn es in ihnen (d.h. Himmel und Erde) Gottheiten außer Gott gäbe, würden sie verderben“? (Sure 21:22) Wird hiermit nicht indirekt ausgesagt, dass er sich innerhalb des Universums befinde? Immerhin scheint der erste Teil des Satzes folgendermaßen umformulierbar zu sein: „Außer Gott gibt es in ihnen keine Gottheiten.“ Dies wiederum hört sich an wie: „In ihnen befinden sich keine Gottheiten, aber Gott schon.“

Hiermit ist kein Fehler feststellbar, denn:

  • Die vorgeschlagene Umformulierung erweist sich im Lichte des arabischen Originaltextes als falsch. In klassischen law-Bedingungssätzen wie dem im Vers vorliegenden kann mit illâ nie eine Ausnahme von der im Irrealis enthaltenen impliziten Negation ausgedrückt werden. Daraus folgt, dass illâ sich hier auf etwas anderes als auf die implizite Negation beziehen muss. Es ist hier nämlich ein Substitut für ghayr.1 Die richtige Umformulierung ist: „Neben2 Gott existierende Gottheiten gibt es in ihnen nicht.“
  • Die Verwendung von illâ an dieser Stelle zählt zum Typus der adjektivischen Verwendung (Typus V a).
1 Vgl. وَلَا نَعْلَمُ الْحَجَّ يُحِلُّهُ إِلَّا الطَّوَافُ بِالْبَيْتِ (Sunan-Werk des Nasai, kitâbu manâsik al-ħajj, Hadith Nr. 2758)
2 Im additiven, nicht im räumlichen Sinne.

Gott: Höher als alles (II)

Wenn Gott höher als das Universum ist, bzw. Sein Wesen nicht im physischen Sinne positioniert ist, wie kann es dann heißen, als gehöre Sein Wesen zu den innerhalb des Universums vorhandenen Dingen: „Sag: Niemand in den Himmeln und der Erde weiß das Verborgene, außer Gott“? (27:65)

Hiermit ist kein Fehler feststellbar, denn hier liegt sehr wahrscheinlich wieder ein Übersetzungsfehler vor, der außer Amir Zaidan leider fast allen Übersetzern unterlaufen ist. Wegen der Originalsyntax des Verses ist naheliegend, dass hier eine spezielle Art der Ausnahmekonstruktion vorliegt, nämlich eine disjunkte Exklusion (istithnâ° munqaTi€) vom Typus IV b.1 In solchen Konstrukten ist °illâ mit „sondern nur“ zu übersetzen: Sag: Niemand in den Himmeln und der Erde weiß das Verborgene, sondern nur Gott. Das einzig Ungewöhnliche ist der Nominativ, in dem das Wort allâh hier steht, doch dies lässt sich zum einen grammatisch ausreichend erklären,2 und zum anderen durch weitere Aspekte nachvollziehbar machen:

  • Ein Akkusativ könnte zu dem Missverständnis führen, dass das Wesen Gottes von dem Verborgenen, das die Geschöpfe nicht wissen, ausgenommen werde,3 so dass man denken würde, das Wesen Gottes sei perzipierbar.
  • Gerade die hierdurch hergestellte Ähnlichkeit zu einer in das Universum hinein positionierenden Aussage kommt durchaus dafür in Frage, eine feine Anspielung auf die (inkarnationsfreie) unfassbare Allgegenwart Gottes zu sein, die ja darin besteht, dass Sein Wirken, Sein Wissen und Seine Allmacht alles im Universum umfasst und durchdringt und Er in dieser Hinsicht jedem Geschöpf näher ist als alles andere im Universum, auch wenn Sein Wesen unendlich hoch über Räumlichkeit und Zeitlichkeit erhaben ist.
  • Schon aus anderen Stellen4 im Koran und in der prophetischen Lehre geht hervor, dass beide einen immensen Wert auf das Bewusstsein um die Allgegenwart Gottes im eben genannten Sinn legen, so dass sich die vorliegende „Verwechselbarkeit“ als kühner Ausdruck der enormen Wichtigkeit dieses Bewusstseins auffassen lässt.
  • Um mit dem Satz eine eindeutige Einordnung unter die Bewohner des Universums vorzunehmen, würde eine winzige Modifikation bereits ausreichen: qul lâ ya€lamu min man fi s-samâwâti wa l-°arDi l-ghayba °illa l-lâhu. Auf diese Weise wird der Teil vor °illâ durch „Stilllegung“ des Subjekts unvollständig gemacht, so dass ein istithnâ° muttaSil („vollständige bzw. verbundene Ausnahmekonstruktion“) zustandekommt.5
  • Selbst wenn die vorangegangenen Punkte nicht wären, so ist die Zahl der Himmel hier nicht eingegrenzt, so dass nicht die sieben Himmel der Schöpfung allein gemeint sein müssen, sondern auch den Himmel einbeziehen könnten, den man den achten Himmel nennen könnte, nämlich den Himmel der außerweltlichen bzw. unräumlichen Existenz. Diese lässt sich sprachlich nachvollziehbar Himmel nennen, da unräumliche Existenz in jedem Fall im unräumlichen Sinne überirdisch ist, zumal sie unter dem Aspekt der unendlichen Distanz zu den Mängeln und Unreinheiten der Erde etwas Höheres als die irdische Existenz ist.

2 Ebd., bsd. Fußnoten zu Typus IV b.
3 Die Grammatik von Sure 44:56 zeigt, dass in der Tat eine solche Situation eingetreten wäre: lâ yadhûqûna fîha l-mawta °illa l-mawtata l-°ûlâ. Auch in dem im Saħîħ-Werk Muslims im Kapitel kitâbu l-fitan überlieferten Hadith wa laysa bihi d-dînu °illa l-balâ°u wird durch den Nominativ ein Missverständnis verhindert, denn mit balâ°a statt balâ°u würde es bedeuten: „An ihm ist die Religion nur Plage.“ Darüber hinaus enthält der Hadith offenbar eine Ellipse zur Vermeidung einer überfrachtenden parallelistischen Wiederholung: „Es kümmert ihn nicht die Religion. Es kümmert ihn nichts als die Plage.“ Übertragen auf den diskutierten Koranvers ergibt sich: „Niemand in den Himmeln und der Erde kennt das Verborgene. Niemand kennt das Verborgene außer Gott.“ Eine Bestätigung hierfür liefert eine authentisch überlieferte Aussage Aishas, welche den Vers in dieser Form wiedergab: „Niemand kennt das Verborgene außer Gott.“
4 Suren 2:186, 4:126, 41:54, 50:16, Saħîħ al-Bukhâriyy Hadith Nr. 6236: „Überanstrengt euch nicht (in der Lautstärke des Bittgebets), denn ihr ruft weder einen Tauben noch einen Abwesenden an, sondern es ist ein Hörender und Naher, den ihr anruft.“
5 Wie z.B. in Sure 11:36. Vgl. auch 35:28.

Gott: Höher als alles (III)

Sagen die Verse 67:16-17, Gott sei im Himmel? Müsste es nicht heißen, dass Er über dem Himmel existiert, wenn Er höher als alles andere ist?

Hiermit ist kein Widerspruch feststellbar, denn:

  • Selbst im naiven Verstädnnis ist auch „über dem Himmel“ sprachlich immer noch „im Himmel“, da das Wort samâ° („Himmel“) wörtlich „Höhe“ bedeutet und hierauf basierend alles, was weit entfernt von der Erdoberfläche und nicht darunter befindlich ist, fi s-samâ° („im Himmel“) ist.1 Dies passt sehr gut zu einer Entität, deren Wesen erhaben darüber ist, physisch-raumzeitliche Eigenschaften zu haben, denn die Entferntheit einer solchen zur Erdoberfläche ist mathematisch betrachtet unendlich groß.
  • Die beste Weise, in der damaligen arabischen Sprache einer Entität Transzendenz und Erhabenheit über Raum und Zeit zuzuschreiben, war die Benutzung des Ausdrucks „im Himmel“ (fi s-samâ°). Eine andere ebenso einfache und respektvolle Möglichkeit gab es nicht, zumal der Raumbegriff in faDâ° („Raum“) noch keine geistes- oder naturwissenschaftliche Dimension entwickelt hatte. (Anders als im lateinisch-christlichen Kontext ist „Himmel“ im Klassischen Arabisch übrigens kein Synonym für das Paradies.) Außerdem assoziiert das arabische im Vergleich zum deutschen „in“ und „im“ auch, aber weniger stark die Bedeutung von „innerhalb“.
  • Beachtet man die Lehre, welche der eigentliche Gegenstand der Verse ist,2 erkennt man die hervorragende Eignung des Ausdrucks „im Himmel“,3 primär die Unerreichbarkeit, Untreffbarkeit, Unangreifbarkeit und Unantastbarkeit des göttlichen Wesens in den Sinn zu rufen.
  • Passend zu Sura 6:103 lässt sich auch die Eignung des Ausdrucks erkennen, Unerreichbarkeit für die Blicke und somit die Unsichtbarkeit bzw. die Verborgenheit des Wesens Gottes zu referenzieren, um ähnlich wie im vorigen Punkt eine Säule der eigentlichen Lehre der Verse aufzustellen.4
  • Das in den Versen benutzte Pronomen man ist sehr allgemein und hat in etwa die Bedeutung „jemand, der“ oder „wer“: Wähnt ihr euch etwa sicher davor, dass wer im Himmel ist die Erde euch verschlingen lässt? Aufgrund der Neutralität des Pronomens lässt sich ohne spezifizierenden Kontext weder auf Art, Geschlecht noch Numerus des Gemeinten schließen. Deshalb sind einige Koranexegeten der Meinung, dass das Pronomen hier nicht Gott, sondern einen oder mehrere Engel meine, denen Gott die Umsetzung der angedrohten Dinge befehlen und sie dazu befähigen könne.
  • Durch das statt alladhî verwendete Relativpronomen man dürften die Verse auch bei der Annahme „funktionieren“, dass es überhaupt nichts im Himmel gebe, weder Engel noch sonst etwas:

    • Dies ergäbe sich aus der Kombination von Frageform, der Lesbarkeit des man als „jemand, der“ oder „einer, der“ und  mglw. auch der Reihenfolge der Satzelemente im Original: Wähnt ihr euch etwa vor einem, der Himmel ist, sicher - davor, dass er die Erde euch verschlingen lässt?. Es lässt sich also davon ausgehen, dass die Verse in erster Linie eine Art Arbeitshypothese zum Weiterdenken liefern. In einem solchen Fall lässt ein derart hypothetischer Charakter der Sätze ontologische Schlussfolgerungen allenfalls sehr eingeschränkt oder gar nicht zu.
    • Besonders stark wirkt dieser hypothetische Charakter im arabischen Original bei gleichzeitiger Inblicknahme der direkt vorhergehenden Verse, in denen allesamt hauptsächlich auf Gott Bezug genommen wird, so dass vor diesem Hintergrund der Eindruck aufkommt, als sei in 67:16 nicht direkt von Gott die Rede, da eigentlich zu erwarten wäre, dass sich die Bezugnahme auf Gott lediglich mittels herkömmlicher pronominaler Prä- und Suffixe fortsetzen würde, statt Ihn plötzlich neu „vorzustellen“.5
    • Auch andernorts im Koran finden sich Beispiele, die durch die Verwendung von man auch ohne die konkrete Gegebenheit der scheinbaren Voraussetzungen funktionieren.6
    Nichtsdestotrotz eignet sich der betreffende Ausdruck in den diskutierten Versen übrigens durchaus als indirekte Bezugnahme auf Gott (statt auf Engel, vgl.  17:68), ohne Ihn konkret zu verorten.
1 Dagegen ist die Erklärung, an sich sei im Arabischen prinzipiell eine Ersatzmöglichkeit für fawqa, äußerst schwach. Darauf wird, so Gott will, an anderer Stelle genauer eingegangen werden.
2 Es ist verwunderlich, wie wenig der Tatsache Aufmerksamkeit geschenkt wird, dass die Formulierung im ganzen Koran nur an dieser Stelle vorkommt, und noch dazu gleich doppelt, in zwei Versen hintereinander. Das sollte eigentlich Anregung genug sein, um nach dem Sinn der Verknüpfung der Formulierung mit dem restlichen Inhalt der beiden Verse zu suchen und hierdurch die eigentliche Lehre zu erkennen: Etwas, das weder zu den Wesen der Erde gehört noch sonstwie an den Planeten gebunden ist, könnte nie von geodynamischen Katastrophen wie den in den Versen erwähnten berührt werden (vgl. Sure 91:15-16), hat also keinen materiellen Hinderungsgrund, eine Katastrophe dieser Art zu induzieren. Folglich ist es mehr als töricht, sich vor dem Hereinbrechen des Strafgerichts leugnend in Sicherheit zu wiegen.
3 Vgl. die arabische Redewendung أنتم في واد ونحن في واد („Ihr befindet euch in einem anderen Tal als dem unsrigen.“) zum Ausdruck der Unerreichbarkeit der Position oder Rangstufe der einen Seite für die andere, sowie der Unvereinbarkeit, Unterschiedlichkeit oder wechselseitigen Unnachvollziehbarkeit zweier Haltungen oder Priorisierungen.
4 Wessen Wesen verborgen und unergründlich ist, dessen Vorhaben und Nichtvorhaben im Einzelnen lassen sich unmöglich im Voraus feststellen, schon gar nicht in einem Maße, die Unrechttätern Sicherheit vor dem Strafgericht bietet.
5 Wie sinnvoll die „Neuvorstellung“ hingegen in Versen ist denen nicht unmittelbar eine Bezugnahme auf Gott vorausgeht, lässt sich z.B. in Sure 41:9 nachvollziehen.
6 Z.B. Suren 67:22 (dieselbe Sure!) oder 13:19, 16:76, 39:19, evtl. 6:122. Die Beispiele sind grammatisch möglichst passend zu den diskutierten Versen gewählt, d.h. rhetorische Entscheidungsfragen beinhaltend, und so, dass man in ihnen offensichtlich nicht die Rolle der Kennzeichnung eines Bedingungssatzes hat und sich dennoch nicht direkt auf konkrete Personen direkt beziehen muss, sondern den hypothetischen Gleichnischarakter unterstützt. Ein weiteres Beispiel könnte Sure 19:29 sein, mit dem Vorteil, dass hier auch das  vorliegt. Der Nachteil des Beispiels ist die Verwechselbarkeit mit einem Bedingungssatz durch das enthaltene kâna. Qortobiy sieht es im Rahmen eines Bedingungssatzes, während Ibn Âshûr in ihm das korantypische Zusatz-kâna sieht, so dass kein Bedingungssatz vorläge. Das noch Ausschlaggebendere an dem Beispiel wäre aber der Ausdruck „in der Wiege“, wiewohl Maria (s) das Kind auf dem Arm heranträgt. Allerdings handelt es sich bei dem Satz um ein Zitat.


Innere Widerspruchsfreiheit: Sonstiges: